Anhelina Tulainova lebte in Mariupol und traf sich mit ihren Freunden nach der Schule am Strand. Jetzt ist alles anders.

Anhelinas Tag an der Tourismusschule war lang, sie ist hungrig und bestellt sich einen Schinken-Käse-Toast. Auf Deutsch. Ich bin beeindruckt. In den gut eineinhalb Jahren, seitdem sie in Österreich lebt, hat Anhelina unsere Sprache sehr gut gelernt. „Jå, des måg i gern“, sagt die fast 16-Jährige (sie feiert ihren Geburtstag im Dezember) später sogar im Dialekt. Es klingt ganz natürlich aus ihrem Mund.
Bis zum Februar 2022 lebt Anhelina (man spricht das h als weiches sch oder ch) mit ihrer Mutter in der Ukraine, in Mariupol, der Stadt am Ufer des Asowschen Meeres. Sie ist ein Einzelkind, ihre Eltern haben sich getrennt. Als die Russen den Angriff auf ihre Heimat beginnen, flüchten Anhelina, ihre Mutter, ihre Tante und deren Mann nach Österreich. Warum gerade die Alpenrepublik? Diese Frage kann Anhelina nicht beantworten, sie wurde in die Entscheidung nicht eingebunden. Zuerst wohnt die Familie in Wörgl, Anhelina geht dort zur Schule – die Mittelschule, weil sie ja kaum noch ein Wort Deutsch spricht. Das Gymnasium bleibt ihr verwehrt, obwohl sie daheim in Mariupol ein Gymnasium mit Schwerpunkt Mathematik besucht hat. „Ich liebe Mathe“, sagt sie mit strahlenden Augen. Ihre Mutter habe beruflich auch viel mit Zahlen zu tun gehabt und als Ingenieurin gearbeitet. Sie ist jetzt in einem Supermarkt beschäftigt. Sobald ihr Deutsch besser ist, will sie sich nach einem Arbeitsplatz umsehen, der ihrer Ausbildung und ihren Fähigkeiten besser entspricht.

Sprachtalent

In Kufstein besuchte Anhelina einen Deutschkurs bei „AHA! – Die Sprachexperten“, Anhelina zeigte sich talentiert, war fleißig und machte schnell Fortschritte. Geschäftsführerin Anna Haselsberger war es, die sie dazu ermutigte, sich in der Tourismusschule in St. Johann einzuschreiben – zumal die Familie inzwischen in der Marktgemeinde lebt. Anhelina fährt weiterhin nach Kufstein, um bei Anna und ihren Mitarbeiterinnen noch besser Deutsch zu lernen. Viel passiert jetzt aber in der Schule.
Sie hat inzwischen festgestellt, dass ihr nicht nur ­Mathe gefällt, sondern dass sie sich auch mit Sprachen leichttut. In den nächsten fünf Jahren – bis zur Matura – wird sie Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch lernen, sie freut sich darauf. Die Sprachen öffnen ihr das Tor zur ganzen Welt. „Vielleicht werde ich einmal Dolmetscherin oder Geschäftsführerin eines Hotels in Spanien“, meint sie mit einem spitzbübischen Lächeln.

Heimweh

Jetzt, nach eineinhalb Jahren, lächelt sie. In den ersten Monaten jedoch war alles furchtbar, sie verstand kein Wort und konnte sich nicht mitteilen. „Ich hatte wirklich schlimmes Heimweh, wollte nur nach Hause“, erzählt sie. Das Heimweh ist inzwischen nicht mehr so stark, völlig verschwinden wird es vielleicht niemals. Anhelina vermisst ihre Großeltern, die jetzt in der Wohnung leben, in der sie und ihre Mutter wohnten – ihre eigene wurde zerbombt. Sie sehnt sich nach ihrem Vater, der in Kiew lebt. Nach ihrer Katze. Und natürlich nach ihren Freunden, nach den unbeschwerten Stunden und Tagen am Strand, nach den Sonnenuntergängen am Meer. Ihre beste Freundin ist mit ihrer Familie nach Kiew geflüchtet, andere zog es ins Ausland.
Anhelinas Heimatstadt Mariupol wurde mittlerweile von den Russen annektiert, das Leben dort hat sich verändert. Den Großeltern geht es körperlich gut, doch ihre Seelen leiden. „Wir sind Ukrainer“, sagt Anhelina, „wir sind nicht russisch.“ Große Teile der Stadt sind zerstört. Jeden Tag telefoniert ihre Mutter mit Anhelinas Großmutter, oft weint sie. Denn ob sich Mutter und Tochter je wiedersehen werden, ob die Großmutter ihre Enkeltochter jemals wieder in die Arme schließen können wird, ist fraglich. Die Menschen in Mariupol dürfen die Stadt nicht verlassen, und ihre geflohenen Angehörigen können nicht zurückkehren. Sie können und sie wollen nicht. Sie wollen keine Russen sein. Es ist die fehlende Perspektive, die am meisten schmerzt.

Unterschiede

Unterdessen ist Anhelina in der Schule strebsam und fleißig, sie will etwas erreichen im Leben. Ihr Lieblingsfach ist Betriebswirtschaftslehre – das mochte sie auch am Gymnasium in Mariupol.
Sie mag St. Johann, die Berge, die Natur, die Landschaft. Aber das Meer fehlt ihr. Sie hat in der Tourismusschule eine gute Freundin gefunden, aber am Wochenende telefoniert sie mit ihren ukrainischen Freunden. Sie gewöhnt sich an unsere Kultur, vermisst aber die ukrainischen Bräuche und Traditionen. Es ist ein Leben zwischen zwei Welten, das sie führt, das sie führen muss.
Die Jugendlichen in Österreich seien anders als in der Ukraine, meint sie. In ihrer Heimat würde die Familie einen größeren Stellenwert einnehmen, auch bei den jungen Leuten. Die Bande seien enger. Auch die Freundschaften, so ist ihr Eindruck.
In Mariupol hat Anhelina gerne getanzt, vielleicht wird sie sich demnächst bei der „Au­stria Tanz Akademie“ in St. Johann anmelden. Und in den Ferien will sie nach Frankreich fahren, sobald es ihre Sprachkenntnisse erlauben. Möglicherweise lässt sich sogar einmal ein Praktikum in diesem Land organisieren? Man wird sehen.
Im Schatten der Ereignisse im Nahen Osten ist es in unserer Wahrnehmung ruhiger geworden um das, was weiterhin täglich in der Ukraine­ passiert. Und doch geht es auch dort täglich um Schicksale von Menschen wie Anhelina. Unsere Hilfsbereitschaft und unser Mitgefühl dürfen nicht abreißen.

Doris Martinz