Theresa Mitterer-Leitner über das Radeln auf „bäuerlichem Betriebsgelände“, von billigem Fleisch und mehr.

Das ist die heile Welt in Tirol, wie wir sie uns wünschen: Auf der einen Seite gibt es die Wirtinnen und Wirte, die auf ihrer Speisekarte ausschließlich regionale beziehungsweise österreichische Produkte anbieten. Und Gäste, die sowohl auf der Alm als auch im Tal gewisse Verhaltensregeln beherzigen und es ihrem Hund nie erlauben würden, sein „Geschäft“ auf der Kuhweide zu erledigen. Auf der anderen Seite: Landwirt:innen, die ihre Grundstücke für Loipen und Radwege öffnen und mit der Bewirtschaftung der Alm dafür sorgen, dass die Gäste der Region jenes Idyll vorfinden, das auf Bildern im Internet ihre Sehnsucht geweckt hat. Der Tourismus profitiert von der Landwirtschaft, und die Landwirtschaft zieht ihren Nutzen aus dem Tourismus. So sieht eine perfekte „Win-Win“-Situation aus dem Lehrbuch aus. Leider spielt es sich in der Realität oft anders ab, weiß Theresa Mitterer-Leitner.
Die 38-Jährige stammt selbst aus der Landwirtschaft – vom Michelnhof in St. Johann.
Ihre Eltern betreiben den Campingplatz und sind damit sowohl Bauern als auchTouristiker. Sie kennt also von Kind auf beide Welten und studierte Betriebswirtschaft mit Fokus auf Tourismus. Sie ist mittlerweile Senior Lektorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am MCI (Management Center Innsbruck) und auf den alpinen Tourismus spezialisiert. „Da hat sich natürlich das Thema Landwirtschaft immer wieder aufgedrängt“, erzählt sie. In den letzten Jahren erstellte sie Studien zum Thema Konflikte zwischen Tourismus und Landwirtschaft sowie zur Tourismuswahrnehmung und -einstellung der Landwirtinnen und Landwirte. Sie hat dazu Tiefeninterviews mit zig Bäuerinnen und Bauern sowie Touristikerinnen und Touristikern geführt. Sie kennt also die Herausforderungen beider Seiten und weiß, wo es hakt und was man sich wünschen würde.

Lebensmittel und Kulturlandschaft

Es sind vor allem zwei Aspekte, die Tourismus und Landwirtschaft verbinden: Zum einen die Lebensmittel, die die Bauern produzieren und im Tourismus Absatz finden sollten. Und zum anderen die Kulturlandschaft, die von den Bauern im Zuge der Lebensmittelproduktion geschaffen wird und Grundlage ist für touristische Produkte, gerade in Tirol. „Tirol positioniert sich mit Fokus auf Themen wie Natur, Erholung und Sport am Berg, das ist in unseren Breitengraden naheliegend. Im Winter wird die Kulturlandschaft für Pisten, Loipen und Co genutzt, im Sommer zum Wandern, Radeln und mehr. Die Verbindung zwischen Tourismus und Landwirtschaft besteht also ganz ursächlich“, so Theresa. Wobei man zum Tourismus in diesem Zusammenhang einen weiteren Aspekt dazunehmen müsse: die Freizeitnutzung des touristischen Angebots durch die Einheimischen. Beides hat in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen. Ist der Zusammenhang allen Betroffenen bewusst? „Nach meinen Erfahrungen ist das nicht so“, antwortet die Betriebswirtin.
Vor allem einer Seite erschließe sich der Zusammenhang immer weniger: den Touristen und den Einheimischen. Dass sie sich beim Skitouren Gehen, Picknicken oder Radeln meist auf dem „Betriebsgelände“ eines Landwirts aufhalten, dringe kaum ins Bewusstsein. Während sich Touristen jedoch beispielsweise anhand von Beschilderungen oder Broschüren über das Verhalten auf Almwegen leichter leiten lassen, sind die Einheimischen kaum zu erreichen. „Sie sind oft der Meinung, dass sie einen vorrangigen Anspruch auf die Nutzung zum Beispiel eines Radweges haben. Sie haben die Brille des Sportlers auf und sehen den Radweg und nicht den Forst- und Güterweg, den der Bauer für die Holzgewinnung und Almbewirtschaftung braucht.“

Es braucht mehr Information

Die Bauern würden sich mehr Bewusstsein und Verständnis von den Nutzer:innen wünschen, weiß Theresa. Einzelne Tourismusverbände haben inzwischen bereits einen Flurwächter eingestellt, der unterwegs ist und die Menschen darauf aufmerksam macht, wenn sie sich in Wald und Flur nicht richtig verhalten. Auch die Bergwacht übernimmt zum Teil solche Aufgaben. „Für die Bauern und Bäuerinnen ist das eine wichtige Unterstützung.“
Die landläufige Meinung, so Theresa Mitterer-Leitner, sei ja, dass jeder in der Region­ vom Tourismus profitiere – auch die Bäuerinnen und Bauern. Also müssten sie eben auch mit den Schattenseiten leben. Tatsache sei jedoch, dass das erhöhte Nutzeraufkommen durch Gäste und Einheimische für die Landwirt:innen ein Mehr an Aufwand, Kosten und Stress bedeute: Die Bauern müssten­ zum Beispiel öfter Bereiche­ abzäunen, Wege mehr in Stand halten, Müll beseitigen, kontrollieren, ob Gatter geschlossen sind, Holzarbeiten auf Schlechtwettertage verlegen. Auch bestehe Angst vor Unfällen, etwa mit nicht versierten E-Bikern. Was fehle, sei ein Mehr an direktem Nutzen. „Den hat man in der Landwirtschaft nur dann, wenn man selbst zum Touristiker wird und zum Beispiel Zimmer vermietet.“ Eine gestiegene Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten aus der Region sei nicht entsprechend zu spüren.
Freilich, viele Einheimische kaufen gerne immer wieder einmal beim Bauern in der Nachbarschaft ein. Aber die großen Abnehmer in der Gastronomie und Hotellerie würden noch viel zu oft zu Importprodukten greifen, vor allem beim Fleisch. „Wichtig wäre, dass sie regional einkaufen. Und regional bedeutet in diesem Zusammenhang zumindest in der großen Region Österreich. Das würde den heimischen Bäuerinnen und Bauern zugutekommen“, so Mitterer-Leitner.
An der Qualität scheitere es nicht, auch nicht an der Verfügbarkeit: Es gibt genug Schweine-, Rind- und Kalbfleisch um alle Einheimischen und Gäste zu versorgen. Gerade Kalbfleisch werde aber aus dem Ausland importiert, weil es billiger und „weißer“ ist. Dabei würden sich höhere Preise auf dem Teller nicht dramatisch auswirken. „Zudem wissen wir aus Studien, dass der Gast es sich erwartet, regionale Produkte auf dem Teller zu haben.“ Es fehle auch das Bewusstsein, so Mitterer-Leitner, dass ohne die Nachfrage nach dem Hauptprodukt Lebensmittel das „Nebenprodukt“ Kulturlandschaft nicht weiter kostenlos vorhanden sein kann.

Die Sache mit den Förderungen

Wenn es um das Thema Landwirtschaft geht, kommen schnell auch die Förderungen zur Sprache. An manchem Stammtisch könnte man den Eindruck gewinnen, die Bäuerinnen und Bauern würden mit Geld überschüttet, ohne dafür etwas leisten zu müssen. „Diese Sichtweise muss sich ändern“, sagt Theresa mit Nachdruck. Die Förderungen seien keine Almosen, sondern ein gesamtgesellschaftliches Instrument, um die Landwirtschaft überhaupt zu erhalten und den Preis von Lebensmitteln niedrig zu halten, erklärt sie. Denn: „Ohne Förderungen könnte auch die Gastronomie diese äußerst hochwertigen Produkte nicht so günstig einkaufen.“ Da es in der Gastronomie keine Pflicht zur Herkunftskennzeichnung gibt, können Wirtinnen und Wirte derzeit aber noch ganz leicht auf billigere Produkte ausweichen. Gäbe es die Pflicht, wären die heimischen Produzierenden konkurrenzfähiger, meint Mitterer-Leitner.

Theresa erzählt, dass viele­ Bauern und Bäuerinnen das Gefühl haben, immer weniger Menschen würden verstehen, welche Rolle die Landwirtschaft spielt. „Gerade die kleinstrukturierte Landwirtschaft, wie wir sie in Tirol haben, liefert neben hochwertigen Lebensmitteln wesentliche sogenannte Ökosystemleistungen. Sie sorgt für eine hohe Artenvielfalt, eine schöne Landschaft und Schutz vor Umweltkatastrophen. Sie trägt maßgeblich zu unserer Lebensqualität und zum touristischen Erfolg bei. Dieses Bewusstsein fehlt oft.“ Wo es entsteht, gibt es die Chance auf eine echte „Win-Win“-Situation zwischen dem Tourismus und der Landwirtschaft. Oder, noch besser: Zwischen der Landwirtschaft und uns allen.

Doris Martinz