Die klinische Psychologin Mag. Verena Elvira Hauser im Gespräch über das Tabuthema „Trauer nach Suizid“

In Österreich, auch in Tirol und bei uns im Bezirk, sterben weit mehr Personen durch Suizid als durch einen Autounfall. Scheidet ein Mensch freiwillig aus dem Leben, betrifft das aber nicht nur ihn selbst, sondern sein gesamtes Umfeld. In Tirol werden jedes Jahr 300 bis 500 Menschen zu Hinterbliebenen durch einen Suizid. Sie haben nicht nur ihre Trauer zu tragen, sondern sind einer Vielzahl von Gefühlen ausgesetzt – unter ihnen Verzweiflung, Schmerz, Wut, Angst und Schuld. Ihre Trauer ist deshalb häufig schwieriger und komplexer. Und sie dauert lange. Mit ein Grund dafür ist der Umstand, dass man in der Gesellschaft nicht über Suizid, über den Selbstmord, spricht. Der freiwillige Tod ist ein absolutes Tabuthema, behaftet mit Angst, Scham und Hilfslosigkeit. Also spricht man auch nicht über die Trauer nach einem Suizid. Besser wäre freilich, es zu tun, sagt die klinische Psychologin Mag. Verena Elvira Hauser. Der Weg in ihr Büro im Krankenhaus St. Johann führt mich durch die Onkologie, eine Doppeltür nach der anderen ist zu passieren. In dieser Abteilung ist der Tod nun einmal greifbarer und präsenter als in anderen – mein Schritt wird immer schneller, ich sehe kaum nach links und rechts. Aber da mache ich zum Glück schon ihre Gestalt durch das Fenster ihres Büros aus.

Es ist kompliziert

Sie sei unter anderem ausgebildete Notfallpsychologin und habe von 2003 bis 2019 als Mitglied des Kriseninterventionsteams viel Erfahrung sammeln können, erklärt Verena Hauser wenig später bei einer Tasse Tee. „Wenn man Angehörigen nach einem Suizid sagt, dass sie nichts dafürkönnen, dass sie keine Schuld tragen, nützt das überhaupt nichts“, weiß sie. Es sei kompliziert. Und an sich schon eine psychische Schwerarbeit, sich darauf einzustellen, dass ein geliebter Mensch gestorben ist. Habe dieser Mensch seinen Tod selbst herbeigeführt, erschwere das die Situa­tion für die Angehörigen zusätzlich.
Ein erster Schritt sei es, die eigene Trauer als solche anzuerkennen, so die Jochbergerin. Die Mutter von drei Kindern ist 45 Jahre alt, verheiratet und hat in Innsbruck Psychologie studiert. Warum ausgerechnet Psychologie? Manche Menschen meinen ja, dass man selbst einen Vogel haben müsse, wenn man sich für diesen Fachbereich entscheide. Ich frage Verena Hauser deshalb rundheraus, wie es ihrem Vogel geht. „Vorhanden und reguliert!“, antwortet sie schlagfertig und lacht herzlich. Ich habe meine Lieblings-Psychologin gefunden.
Obwohl sie sich in der Folge mit gebotenem Ernst unseres Themas annimmt, ist von Schwere nichts zu spüren. Verena Hauser ist mit Tod und Sterben vertraut. „Der Tod ist etwas ganz Natürliches“, sagt sie. Sie hat ihre Zusatzausbildungen in Psychoonkologie, Notfallpsychologie und Pallia­tiver Psychologie absolviert. Auch beim Thema Selbstmord hat sie keine Berührungsängste. Wichtig sei für die Angehörigen, sich selbst Zeit und Raum für die Trauer zu geben. „Früher gab es das Trauerjahr, das akzeptiert und anerkannt wurde. In unserer Schnelllebigkeit heute muss alles „zack-zack“ gehen. Dabei brauchen Angehörige gerade bei komplexeren Todesfällen bei Kindern oder bei Suizid länger.“ Der Trauerprozess könne sich hier verzögern und in Richtung „komplizierte Trauer“ gehen, die auch in eine Depression münden kann. Empfehlenswert sei es, sich professionelle Hilfe zu suchen. Auch Selbsthilfegruppen können zum Beispiel eine Unterstützung darstellen, weil der Austausch mit anderen Betroffenen guttun kann.

Suizidalität – eine psychische Erkrankung

Bei der Trauerbewältigung helfe es, zu verstehen, wie es zu einem Suizid kommen könne, so Verena Hauser. Suizid sei eine psychiatrische Dia­gnose, sagt sie. „In Akutsitua­tionen erkläre ich den Angehörigen, dass es sich bei Suizidalität um eine psychische Erkrankung handelt, die bei Durchführung eines Suizids nicht geheilt werden konnte. Das macht die Situation etwas greifbarer.“
Meist sind es viele verschiedene Faktoren, die dazu führen, dass sich Menschen schlussendlich selbst das Leben nehmen. „Es gibt eine suizidale Entwicklung, das passiert nicht von heute auf morgen.“ Irgendwann könne dann der Gedanke an den endgültigen Ausweg aus Umständen, die so nicht mehr ertragen werden können, nicht mehr weggeschoben werden. Nur der Tod bedeutet Ruhe und ein Ende der psychischen oder physischen Leiden. Verena Hauser spricht von einer „kog­nitiven Einengung“, einem Aspekt der suizidalen Entwicklung: Die Betroffenen nehmen kaum mehr Positives wahr, sehen nichts Gutes mehr im Leben. Sie sind nicht mehr in der Lage, Hilfe anzunehmen. Sie sind nicht mehr in der Lage, die Folge ihres Handelns abzuschätzen. „Das sucht man sich nicht aus“, sagt die Psychologin. „Genauso wenig, wie man sich Krebs oder andere Krankheiten aussucht.“
Während man als Angehöriger Verständnis für körperliche Leiden aufbringt, ist es oft schwierig, sich in Menschen mit Depressionen oder gar suizidalen Gedanken hineinzuversetzen. Die meisten wagen es nicht, Familienmitglieder oder Freunde darauf anzusprechen. Auch dann nicht, wenn sie spüren, dass sich die betroffene Person mit Suizidgedanken tragen könnte – aus Angst, „schlafende Hunde“ zu wecken. Dabei wäre es wichtig und richtig, das Kind beim Namen zu nennen. „Hast du schon einmal daran gedacht, dich umzubringen?“ Diese Frage klingt schrecklich und brutal. Sie zu stellen, kann ein Leben retten. Denn möglicherweise kann sich der oder die Betroffene aufgrund der direkten Konfrontation öffnen und Hilfe annehmen. Wer sich die Frage nicht selbst zutraut, kann sich an Stellen wenden, die weiterhelfen (siehe Textende).

Verantwortung zurückgeben

Verena Hauser hat schon öfter Angehörige von Menschen betreut, die Suizid begangen haben. Darunter auch Kinder.­ Der Umgang mit jungen Hinterbliebenen ist besonders fordernd und ein Thema für sich. Doch auch bei Erwachsenen können Suizide psychische Traumata auslösen. Besonders dann, wenn Schuldgefühle aufkommen. Sich in diesem Fall professionelle Hilfe zu holen, ist der wichtigste Rat, den mir Verena Hauser mit auf den Weg gibt. „Retten“ könne aber auch sie niemanden, betont sie. „Ich kann nur Menschen darin unterstützen, sich selbst zu retten, ich kann nur Hilfe zur Selbsthilfe geben und Angebote machen.“
Es sei ein schwerer und steiniger Weg, sich nach dem Suizid eines lieben Menschen damit auseinanderzusetzen, wie viel Verantwortung man für den anderen wirklich hatte, wo die tatsächlichen Versäumnisse lagen, und wo man nur in seiner eigenen Vorstellung schuldig geworden ist. Es könne Jahre dauern, bis Hinterbliebene diesen Teil des Weges hinter sich lassen können, so Verena Hauser.
Wenn ein Mensch so verzweifelt ist, dass er sich tötet, ist das ein Drama. Verantwortung oder gar Schuld daran trägt allerdings letztlich niemand anderes als er selbst. Jedes kleine Stück von Verantwortung, das Hinterbliebene dem Verstorbenen zurückgeben können, macht das Loslassen möglich. Erst wenn man loslässt, kann der Verlust wirklich betrauert werden.

Doris Martinz

Kontaktadressen:

Telefonseelsorge 142: Psychosozialer Krisendienst Land Tirol: Tel. 0800 400 120
RAINBOWS-Tirol: (Hilfe für Kinder nach Suizid eines Elternteils), tirol@rainbows.at
Selbsthilfegruppe: gina_seibl@hotmail.com, www.selbsthilfe-tirol.at
Trauerbegleitung: Tiroler Hospiz Gemeinschaft, Sigrid Wörgötter, Bezirks­krankenhaus St. Johann, sigrid.woergoetter@hospiz-tirol.at