Der ehemalige St. Johanner Alpenvereins-Obmann Horst Eder kramt in seinen Erinnerungen und blättert in seinem Tourenbuch.

Erinnerung an einen legendären Kitzbüheler

Auf praktisch jedem Kaisergipfel befindet sich eine Blechkassette, in der sich das Gipfelbuch befindet, manchmal leicht feucht oder gar nass, wenn die Dose nicht mehr ganz dicht ist, manchmal fehlt der Bleistift – man muss es nehmen, wie es eben ist. Über Jahrzehnte hatten die Gipfelbücher im Kaiser einen fürsorglichen Betreuer: den legendären „Wieser Much“ aus Kitzbühel. Der Kaiser war seine Heimat, im Bereich der Baumgartenalm erbaute er ein schönes Berghaus, das „Freiberg-Haus“, unweit von diesem, am Brennenden Pölven, fand der Much seine letzte Ruhestätte, heute bekannt als das „Lehrergrab“. Hier ruht er unterhalb seines Lieblingsgipfels, der Regalpwand, die er mehr als 200-mal bestiegen hatte. Sein Begräbnis am 19. Oktober 1952 war eine würdige Feier und eine Würdigung seiner Arbeit für den „Koasa“.
Viele Jahre wurde am Brennenden Pölven anfangs Oktober unter großer Beteiligung die „Wieser-Much-Messe“ abgehalten, ein Fixtermin für viele Bergfreunde.

Gezählte Besteigungen

Der Regalpturm im Ostkaiser und der Kapuzenturm am Kopftörlgrat haben eines gemeinsam: sie sind die einzigen Kaisergipfel, deren Gipfelbesteigungen von jeher im Gipfelbuch durchnummeriert sind, jeder „Bezwinger“ weiß somit, der wievielte Besucher er ist.
Mein Bergfreund Hans Lichtmannegger aus Oberndorf, bekannt als „Sasei“, und ich hatten bei einer unserer Reg­alpturm-Besteigungen die Idee, diesen Gipfel auf allen seinen Routen zu begehen, nach dem Normalanstieg, der Nordostkante, der Westwand und der Nordwand ist am 14.Oktober 1961 die Ostwand dran, zwei flotte Seillängen in festem Fels mit ein paar Haken aus der Zeit der Erstbegehung 1927 durch die Kitzbüheler Dr. Zimmeter und Schlechter. Bei der Eintragung ins Gipfelbuch stellen wir fest, dass wir heute die 497. Besteigung gemacht haben. Also: es gibt bald ein Jubiläum, „da 500er schaugg eicha!“.
Inzwischen erfahren wir, dass die Edelweißgilde Kitzbühel,­ die statutengemäß ihre Hauptversammlung alljährlich auf einem Gipfel abhält, den Plan hat, die Versammlung mit der 500. Besteigung des Regalpturms zu verbinden. Und da fällt uns ein, dass wir da einmal eine nette Geschichte gehört haben.

Blick zurück auf 1927

Dem Wieser Much, seines Zeichens Schuldirektor in Kitzbühel, war anlässlich einer Regalpturm-Besteigung die Zahl „97“ ins Auge gesprungen, hier war also der „100er“ im Anzug! Und er vernahm, dass dies auch einige aus den eigenen Reihen wussten und somit die Jubiläumstour planten. Die Kontrahenten waren Freiberufler, der Much hingegen als Lehrer wochentags an die Schule gebunden. Wie er später dann „gestand“, hat er an diesem 21. September 1927, einem Wochentag, das erste und einzige Mal in seinem Pädagogen-Dasein die Schule geschwänzt. Am Weg zur Baumgartenalm treffen sie also zufällig zusammen: der Gildenvorstand Dr. Zimmeter, Kathi Thaler, Hansjörg Schlechter und der Wieser Much. Und das Quartett macht dann gemeinsame Sache und muss den Gipfel allerdings dreimal an diesem Tag besteigen, weil seit der 97. Besteigung niemand mehr oben war. Der „100er“ wurde über die Ostwand gemacht, das Jubiläum war zur Freude aller Beteiligten gerettet! Und uns hat diese Geschichte 34 Jahre später inspiriert.

29. Oktober 1961

Nach einer eher schlechten Nacht in der bummvollen Pflaumhütte steigen Hans und ich auf zur Regalpscharte. Wir haben das Gefühl, dass wir spät dran sind und wissen, dass es eilig werden kann, wenn seit unserer letzten Turm-Tour vor zwei Wochen niemand mehr oben war – dann müssen wir nämlich auch dreimal hinauf. Zuerst der Normalweg, kalter Fels, klamme Finger, in der Nacht hat’s ein bissl geschneit. Am Gipfel angekommen, gilt unser erster Blick dem Gipfelbuch: letzte Besteigung am 14. Oktober, das waren wir zwei. Also: dreimal! Flotter Abstieg, hinüber zum Einstieg der Nordostkante, die Finger sind aufgewärmt und an den kalten Fels gewöhnt, es geht reibungslos gipfelwärts. Aber: aus dem vernebelten Grubachkar hören wir Stimmen, die Kitzbüheler sind im Anmarsch von ihrem Stützpunkt, der Ackerlhütte. Für uns heißt’s wieder: flott absteigen und nochmals vorne hinauf. Als wir also zum dritten Mal oben ankommen, stellen wir mit Freude fest, dass der Gipfel leer ist. Nochmals schnelles Eintragen ins Gipfelbuch und Abstieg. Höchste Zeit: im unteren Teil treffen wir auf die ersten Kitzbüheler, die Frage „de wiavuit’n seid‘s?“ beantworten wir diplomatisch, also nichtssagend. Als wir dann einen lauten Wutschrei vom Graswander Pepi von oben vernehmen, wissen wir, dass unsere Eintragungen vernommen worden sind. Wir steigen mit einem bissl Stolz ab zur Pflaumhütte und zur Griesneralm, wo wir voller Freude auf unsere Regalpturm-Tour anstoßen.

Nur kleine Nachwehen

Der Edelweißgilde hat diese „verhaute“ Jubiläumstour aber nicht viel ausgemacht, in der lokalen Presse erfuhr man, dass die Regalpturm-Besteigung mit Nummer 501 auch mit Freude aufgenommen wurde. Allerdings waren da zwei ältere Gildenmitglieder, der ehemalige Gildenvorstand Dr. Otto Zimmeter und der ehemalige Fahrdienstleiter Franz Fischer, die sich im Göttweiger Keller in Wien trafen und ein Gedicht verfassten, das dann im „Anzeiger“ abgedruckt wurde:

Fünfhunderteins –
Renommee ist das keins!
Zwei Gildenbrüder,
fern von Tirol, die fühlen sich beim Wein zwar recht wohl,
doch sie sind traurig ob der großen Schande, die sie vernommen vom Tiroler Lande.
Besiegt ist unsere Gilde ganz, wohl von der Konkurrenz aus Sainihans!
Es ist fürwahr ein großes Trauerspiel,
dass St. Johann euch überflügeln will.
Die Gilde und der AV Wilder Kaiser, sagt, Brüder,
wo sind da die . . . . ?
Allseits herzliches Hulalah!

Das vermasselte Gipfeljubiläum war unser zweites Ärgernis gegenüber den Kitzbühelern: acht Tage vorher begaben wir uns auf ungewohntes Terrain: wir spielten gegeneinander Fußball, und der St. Johanner Alpenverein gewann gegen die Edelweißgilde Kitzbühel 4:1. Der guten Nachbarschaft tat aber weder das eine noch das andere einen Abbruch.

Horst Eder