Fünf Ehepaare aus St. Johann unternahmen in fast drei Jahrzehnten in ihren Küchen kulinarische Reisen um die ganze Welt.

Kochsendungen wie „Das perfekte Dinner“ boomen und unterhalten ein Millionenpublikum. Dabei ist das alles eigentlich ein alter Hut. Denn ganz im Verborgenen, unbemerkt von der großen Öffentlichkeit, lief in St. Johann über Jahrzehnte eine coole „Reality“-Kochshow“. Es gab zwar keine Kamera und kein Drehbuch, dafür Leidenschaft, Durchhaltevermögen, Genuss und viel, viel Spaß.
Die Umschlagfolie hat viele Blasen, die Ecken sind ausgefranst, die Klebebindung hat sich stellenweise aufgelöst, manche Seiten hängen quasi nur mehr am seidenen Faden im Buch – zum Beispiel jene, auf denen die Gerichte „Culbastija“ aus „Jugoslawien“ oder auch „Imam bayildi“ aus der Türkei beschrieben werden. Das Kochbuch „Die 100 berühmtesten Rezepte der Welt“, herausgegeben von Roland Göök, löst sich fast auf. Wen wundert’s? Es wurde wohl tausendfach zur Hand genommen und eingehend studiert, es wurde hundert Mal weitergereicht. An hundert Abenden drehte sich alles um dieses Buch und um die Gerichte, die darin beschrieben sind. Zum Beispiel um die Paella aus Spanien. Auf der entsprechenden Doppelseite im Buch ist der handschriftliche Vermerk zu finden: „Das Essen war spanisch, und gschmeckt hat’s damisch!“ Festgehalten sind auch die Infos des Abends und für die nächste Runde: „Essen Nr. 90 bei Fischer 25.11.2001; nächstes Nr. 32 bei H+H Eder, Hanni ist die letzte in der Runde, nachher wird neu verteilt.“ Auch Unterschriften sind auf der Doppelseite verteilt: jene von Käthe, Pepi, Peter, Kathi, Horst, Hanni, Steff, Maria, Christl und Hans.
Auf der Doppelseite des Rezepts für die Schildkrötensuppe ist folgender Vermerk zu lesen: „Schildkrötensuppe ist jetzt rar, aber die Teller blieben trotzdem nicht laar!“ Dazu die Infos: „Essen Nr. 87 bei Wagger am 26.1.2001, nächstes Essen bei Maria+Steff Nr. 68, nachher noch im Rennen: Käthe, Christl, Hanni.“ Auch die Unterschriften sind da. So zieht es sich auf allen Seiten und bei allen hundert Gerichten durch.

Ein Geistesblitz

Was es damit auf sich hat, erklären mir Horst und Hanni Eder, als ich sie in ihrer Wohnung in St. Johann besuche. Horst hat sich gut vorbereitet – er hat das stark strapazierte Kochbuch, Fotoalben und Listen griffbereit. Letztere sind von Horst in gestochen schöner Handschrift erstellt – wie von einem Buchhalter. Dabei ist und war der heute 78-Jährige nie Buchhalter, sondern Schriftsetzer in einer Druckerei. Und damit hängt irgendwie auch alles zusammen:
Es begann nämlich damit, dass Horst im Winter 1977 bei Ritzerdruck in Kitzbühel für den Gasthof Eggerwirt eine Speisekarte gestaltete, auf der das unerhört exotische „Nasi Goreng“, ein indonesisches Reisgericht, groß herausgestellt und beworben wurde – eine Speise, von der er damals noch nie zuvor gehört hatte. Horst, seine Frau Hanni und zwei befreundete Ehepaare (Kathi und Peter Wagger sowie Christl und Gerd Hahn) probierten es beim Eggerwirt und befanden es für sehr gut. Als man sich später bei einem der Paare noch auf ein Gläschen traf, erinnerte sich Horst daran, dass er ein Kochbuch daheim hatte, in dem auch das Rezept für das Nasi Goreng enthalten war. „Die 100 berühmtesten Rezepte der Welt“ lautete sein Titel. Horst holte es gleich; gemeinsam blätterte man wenig später darin, las die Rezepte, staunte und lachte über so manches Gericht. Und dann, ja dann ereilte Horst ein Geistesblitz: Was, wenn jedes Vierteljahr eine der anwesenden Damen ein Gericht aus besagtem Buch kochen würde? Die Idee wurde begeistert aufgenommen. Doch wer sollte mit dem Kochen beginnen, das erste Gericht zubereiten und vor allem: welches der hundert?
Kurzes Nachdenken, Kopfkratzen. Und dann die Erkenntnis – die Karten mussten entscheiden.
Der Hausherr schlug die Karten der Reihe nach auf, und wer die „Herz Sau“ erwischte, durfte (oder musste) blind das Rezeptbuch aufschlagen und das Gericht der aufgeschlagenen Seite beziehungsweise jenes der Seite davor oder danach kochen. Dieser Modus wurde an jenem Abend festgelegt und über 28 Jahre lang beibehalten. Aber warum 28 Jahre? Wenn man einhundert Gerichte durch vier (Mal) im Jahr teilt, ist das Resultat ja 25. „Dass wir länger gebraucht haben, hat einen traurigen Grund“, sagt Horst, als wir bei ihm daheim über das große Koch-Abenteuer sprechen.

Schwerer Verlust

Horst erzählt, dass nach dem 50. Essen Gerd Hahn, einer der Männer der Runde, verstorben sei. Es habe sich für alle nicht gut angefühlt, nach dem Verlust des engen Freundes weiterzumachen. „Das Kochen war ja längst nicht das Einzige, das uns verbunden hat. Wir haben so vieles geteilt und erlebt, besonders bei unseren Bergtouren“, sagt Horst nachdenklich. Nach einiger Zeit aber, als die Freude an den schönen Erinnerungen die Trauer überwog, beschloss die Runde weiterzumachen. Sie war schon zuvor auf fünf Pärchen angewachsen. „Zuerst waren ich und Hanni, dazu Kathi und Peter Wagger sowie Christl und Gerd Hahn. Dann kamen noch Käthe und Pepi Fischer dazu und Maria und Stefan Pletzenauer“, erklärt Horst. Oft waren es aber noch mehr Leute, die zu bekochen waren, schließlich hatten die Paare ja Kinder, die bei den Vorbereitungen fleißig mithalfen.
Schon am ersten Abend wurde übrigens das letzte Gericht bestimmt: „Reis Trauttmansdorff“ sollte es sein. „Wir haben uns gedacht, dass wir in 25 Jahren, wenn wir das Buch durchgekocht haben, vielleicht schon Probleme mit den Zähnen haben. Mit dem Reis gingen wir auf Nummer sicher, den musste man nicht beißen“, sagt Horst und lacht herzlich, Hanni stimmt mit ein. Ich bekomme eine Ahnung davon, wie lustig die Abende im Freundeskreis damals waren. 1977, als die Koch-Rallye anfing, waren alle um die dreißig Jahre alt.

Man ist erfinderisch

Die erste Dame, die zur Köchin bestimmt wurde, war Hanni. Sie schlug das Buch auf und erwischte „Mexikanische Enchiladas“. Das war eine der leichteren Übungen. Als schwierigstes Gericht stellte sich „Gefillte Fisch“ aus Israel heraus, mit denen Käthe Fischer (wie passend!) zu kämpfen hatte. Dazu musste der rohe Fisch bis auf die Haut ausgenommen und sein Fleisch gemeinsam mit anderen Zutaten durch den Fleischwolf gedreht werden. „Der Hunger ist gestillt, mit Fisch gefillt, nachher der Wein war auch sehr fein“, steht im Buch zu lesen. Bei so außergewöhnlichen Gerichten wie „Angels on Horseback“, England, (mit Speck umwickelte Austern), dem japanischen Fischgericht „Tempura“ oder „Clam Chowder“ (Muschelsuppe aus den USA) waren die Zutaten natürlich nicht immer leicht oder auch gar nicht zu bekommen. „Wir haben das nicht so streng genommen. Was man nicht auftreiben konnte, hat man ersetzt, oder, wenn es nicht erhältliche Gewürze waren, auch einfach ignoriert“, erklärt Horst.
Während man es bei den Zutaten nicht ganz so genau nahm, versuchte man doch, ein Ambiente zu schaffen, das dem Herkunftsland des aktuellen Gerichts entsprach. Den „Cheesecake“ aß man beispielsweise vor der amerikanischen Flagge an der Wand, meist passten auch die Tischkärtchen und -dekorationen dazu. „Unsere Kinder waren da ganz eifrig dabei“, erzählt Hanni. Auch das Getränk, also der Wein, hätte zum Gericht passen und aus dem jeweiligen Land kommen sollen. Aber was tun bei „Kedgeree“ (Mischgericht aus Linsen und Reis) aus Indien? „Da haben wir halt ein wenig geschwindelt“, gibt Hanni lächelnd zu. „Wir haben einen einheimischen Wein gekauft und selbst gemachte Etiketten aufgeklebt, die asiatisch ausgesehen haben. Und schon war der Südtiroler ein Asiat. Da waren wir ziemlich erfinderisch.“

Wunderbare Erinnerungen

Nach dem Essen, gegen Mitternacht, legte man dann das Rezeptbuch auf den Tisch, schlug die Karten auf, und man bestimmte die nächste Köchin und das Gericht. Wer gerade dran war, schied beim jeweiligen Durchgang aus, sodass jede Dame höchstens einmal im Jahr an die Reihe kam. Vielleicht war dieser Modus das Rezept dafür, dass die Paare sich über einen so langen Zeitraum trafen, um alle Gerichte des Kochbuchs auszuprobieren? „Nie hat jemand gesagt, dass er keine Lust mehr hätte. Nie hat sich jemand über Zeitaufwand oder Kosten beschwert. Es war super: Wir waren alle ja viermal eingeladen und mussten dann nur einmal selber kochen“, erzählt Hanni. Die Männer halfen ihren Frauen natürlich ein wenig in der Küche, aber auch beim Servieren und Dekorieren.
Vielleicht trug die Koch-Serie sogar zum Gelingen einer Love-Story bei? Barbara, die Tochter der Pletzenauers und Peter, Sohn des Ehepaars Fischer, verliebten sich und sind seit Jahren glücklich verheiratet. Die kulinarische Reise um die Welt, die ihre Eltern unternahmen, bot bestimmt viel Gesprächsstoff.
Übrigens: Barbara Fischer und Petra Wagger (Schwiegertochter der Waggers) übernahmen die Idee der Kochrunde vor zwanzig Jahren mit vier weiteren Freundinnen. Sie kochen nach demselben Buch und Modus und haben bis jetzt 72 Gerichte „durch“. Letztes Jahr jedoch verstarb Petra. Ihr Tod riss eine schmerzliche Lücke in die sonst so lustige und lebensfrohe „Mädelsrunde“ und brachte natürlich auch eine Unterbrechung. Auch Babypausen sorgten dafür, dass sich „das Koch-Projekt“ in die Länge zieht. Aber nun wird – auch im Andenken an Petra – wieder weiterhin viermal im Jahr gekocht. Ganz so, wie es „der Brauch“ ist.

Die „Seniorin“ der „Original-Kochrunde“ ist Käthe Fischer; ihr Mann Pepi verstarb leider im Jahr 2008. Er hatte die Abende oft mit seiner Zither bereichert, ebenso wie es Peter Wagger mit der „Zugin“ tat. Was bleibt, ist die Erinnerung an feucht-fröhliche Abende, an denen gekocht, gegessen, getrunken, gelacht und gescherzt wurde. „Wir haben übrigens eine Auflage gehabt: Wir haben immer alles aufessen müssen“, fällt Hanni noch ein. Das war gar nicht so einfach bei Gerichten, die nicht ganz so appetitlich aussahen. Wie die eine Fischsuppe, bei der die Zutaten „so komisch“ im Teller herumschwammen. „Wir haben dann das Licht ausgeschaltet, damit wir nicht hinschauen mussten. Und es hat super gut geschmeckt“, lacht sie. Jeder der Abende war ein Ereignis und auf seine Art unvergesslich. „Es war einfach eine wunderschöne Zeit“, sagt Hanni seufzend. Sie liegt nun schon lange zurück, 2005 trafen sich die zehn Freunde zum letzten Mal zum Kochen. Auch dank Horsts penibler Aufzeichnungen und der vielen Fotos bleibt die Koch-Show für die Akteure aber ganz unvergesslich. Wie auch die Gerichte selbst. Wie lautet die Notiz bei „Canard à l’Orange“? „La Madame vom Haus machte einen super Schmaus. Wir dinierten fein und steckten flott zwei Enten ein.“

Doris Martinz