KR Carl Hofinger ist eine der markantesten Persönlichkeiten in St. Johanns Geschichte der letzten Jahrzehnte.
Ein Gespräch über Wirtschaft, Glaube, Demut und mehr …

Es dauerte zwei Minuten, bis Carl mein Herz eroberte: Die Hündin Jessy sei wohl nicht mehr die Jüngste, merke ich an, als jene sich zu uns ins Wohnzimmer seines Hauses mitten in St. Johann gesellt. Man sieht dem Tier sein Alter an: Das Fell ist an der Schnauze schon ziemlich grau, die Augen sind trüb. Seine Antwort auf meine Äußerung: „Eine Dame ist immer im besten Alter!“

Carl hat sich auf unser Gespräch vorbereitet und legt mir Texte vor, in denen Bekannte und Freunde die Stationen seinen Lebens festgehalten haben. Da ist von den unterschiedlichsten Funktionen in Gemeinde, Vereinen und in der Wirtschaft die Rede, von unzähligen Projekten, die er ins Leben gerufen und begleitet hat, von Ämtern, Würden und Verdiensten. Unmöglich, sie alle hier wiederzugeben und Carl damit auf zwei oder drei Seiten gerecht zu werden. Nur ein Zitat sei wiedergegeben, für das man Carl im Ort kennt: „Es gibt nur eins: draußen keins!“ Damit setzte sich der heute 83-jährige St. Johanner als Obmann der Wirtschaft dafür ein, dass Geschäfte nur im Ort und nicht „draußen auf der grünen Wiese“ angesiedelt wurden. Weil sonst die Wertschöpfung „am Ort vorbeirauscht wia a Wildbåch!“

Bei der Kirche hört der Spaß auf
In einem der Texte steht außerdem geschrieben, Carl sei ein überaus liebenswerter und verträglicher Mensch, man könne herrlich mit ihm diskutieren, man dürfe nur nicht den Fehler machen, die katholische Kirche zu kritisieren. Da höre der Spaß für ihn nämlich auf. Ist das wirklich so? „Jå, jå“, meint er lächelnd, „des is scho richtig.“ Sein Glaube an Gott ist für Carl ein Geschenk. Ein Pflänzchen, das er seit seiner Jugend hegt und pflegt. „Sist håst ihn nit, wennst ihn brauchst“, sagt er. Den Glauben gebraucht hat er in seinem Leben immer, aber am meisten wohl, als er zwei seiner Liebsten verlor: Sein Sohn Karl starb im Alter von nur 23 Jahren bei einem Kletterunfall. Er war ein ausgezeichneter Sportler gewesen, erfolgreicher Kunst-Skispringer. Sein Bild hängt an der Wand gegenüber, es ist mit Blumen geschmückt. „Er wår a starker Bua“, sagt Carl und blickt hinüber zum Foto seines Sohnes. Die Trauer über seinen Tod steht ihm ins Gesicht geschrieben. Immer noch, nach so vielen Jahren. „Nur mei Frau wår nu stärker“, setzt er nach. Angelikas Bild hängt neben dem ihres Sohnes, Carls Frau starb 2014 nach einer langen Krebserkrankung. Den Tod ihres Buben habe sie nie überwunden, sagt Carl. Angelikas Vater war übrigens der Gründer der Bergbahn St. Johann, Franz Schneider.

Der Glaube hilft
Für die Zeit nach seiner Pensionierung hätten die Eheleute noch so viel vorgehabt, sie freuten sich auf gemeinsame Reisen, zusammen wollten sie auch noch Ahnenforschung betreiben im Waldviertel. Die Krankheit und schließlich Angelikas Tod durchkreuzten alle Pläne. Seit sechs Jahren lebt Carl nun alleine im Haus – mit Jessy, seiner treuen Hündin, der „Dame“ ohne Alter, mit der er täglich eine Stunde spazieren geht.
Sein Glaube ist es, der ihm hilft, den Verlust seiner Frau zu ertragen. Auch wenn es sich anfühlt, „als tat dir a Finger fehlen oder die Hånd“. Ein Teil von uns geht mit, wenn wir uns von unseren Liebsten für immer verabschieden müssen.

Tradition und Zukunft
Carls Töchter Johanna und Angelika kümmern sich gut um ihren Vater. Er ist sehr stolz auf sie und empfindet es als Segen, dass Angelika, „Anschi“, jetzt schon im 15. Jahr als Besitzerin und Chefin das Familiengeschäft dem neuen Zeitgeist entsprechend so gut und umsichtig führt. Es wurde bereits im Jahr 1737 gegründet und ist seit 1858 in Familienhand. Anschi ist somit die fünfte Generation in der Familie Hofinger. Carl übernahm den Betrieb einst als Gemischtwarenhandlung mit 60 Quadratmetern Verkaufsfläche und verwandelte ihn mit Unterstützung seiner Familie im Laufe der Jahrzehnte in ein Modegeschäft auf 300 Quadratmetern – und zum führenden Mode-Fachhändler in der Region.
Die Zeiten für die Wirtschaft sind derzeit alles andere als leicht. Was sagt Carl eigentlich zur Corona-Krise? Dass die Situation wirtschaftlich gesehen natürlich eine Katastrophe sei, meint er, „aber die Verantwortlichen måch’n wohl des Beste d’raus.“ Für ihn ist der Umgang mit der Pandemie in unserem Land vorbildlich. „Wenn dir der Nächste so viel wert ist wie in Österreich, då ku ma stolz sein.“ Er ist sich sicher, dass sich die Menschen als Konsequenz aus der Krise wieder mehr auf die Stärken in ihrer Region besinnen werden, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in der Kultur, in den Traditionen, „des san unsere eigentlichen Schätze“, meint er. Die Tradition, erklärt mir Carl, sieht er nicht als Stillstand. Tradition bedeutet für ihn Weiterentwicklung, Zukunft gestalten, ohne die Vergangenheit dabei über Bord zu werfen. Denn wer sich aufmache ins Neue, der brauche dafür eine starke Basis, von der aus das möglich ist. Das war sein Ansatz bei allem, was er in Angriff nahm in seinem Leben. Und das war viel. So viele Projekte (wie zum Beispiel die Sanierung des Heiligen Grabes in St. Johann), dass ich nachfrage, wie man das überhaupt alles schaffen kann. Seine Antwort: „A richtig gute Såch’ mit Hånd und Fuaß muass fåst funktionieren, wenn’st richtig dahinter bist.“

Im Dienste des Nächsten
Mich interessiert auch, wie es Carl in den vergangenen Jahrzehnten gelang, erfolgreicher Unternehmer, sorgender Familienvater und Inhaber zahlreicher offizieller Ämter zu sein – alles in einer Person. Dazu meint er, dass er in seinem Geschäft ja immer da war, für Kunden und Kollegen, aber auch für die Familie. Das alles habe sich gut vereinen lassen. Wenn er sein Leben noch einmal leben könnte, würde er etwas anders machen? Carl überlegt kurz und sagt dann: „Schwer zu såg’n, ma muass jå alles im Lichte der Zeit sehen. Hintennåch zu sagen, des hätt i ånders tun sollen oder des, find i falsch. Des hätt jå anders gefruchtet, sich gånz anders entwickelt.“
In seinem Geschäft, beim Verkaufen, fand er seine Berufung: „Meine Leidenschaft, wenn i eine håb, is Kunden bedienen, des is für mi ein ehrenvoller Auftrag. I treff heit’ nu Leit’, die såg’n: Woaßt nu, wia i des kafft håb bei dir …“. Dass sich der St. Johanner so intensiv ins Gemeindeleben eingebracht hat, bereut er in keiner Weise. Er zitiert Perikles, den athenischen Politiker und Feldherrn (um 500–429 v. Chr.): „Wer an den Dingen der Stadt keinen Anteil nimmt, ist kein stiller, sondern ein schlechter Bürger.“
Carl hat sich immer eingebracht in die Gemeinde, in Vereine und Institutionen. In erster Linie nicht für sich selbst, sondern im Interesse der Allgemeinheit, für die Menschen in seinem Umfeld. Er ist Wirtschaftsmensch, Familienmensch, Kulturmensch. Vor allem ist er aber ein großer Menschenfreund mit einem weit offenen Herzen für seine Nächsten.

Unglaubliches glauben
Carls Mutter Johanna stammte ursprünglich aus Bichlbach im Außerfern, erzählt er. Ihr Vater war Bürgermeister des Orts und traf in Innsbruck bei einer Sitzung Carls Großvater, der seinerseits Bürgermeister von St. Johann und zugleich Landtagsabgeordneter war. Johannas Vater fragte Carls Großvater, ob jener im Geschäft nicht eine schneidige, tüchtige Verkäuferin brauchen könne, und das konnte jener tatsächlich. „Meine Mutter is also über die Politik nåch St. Johann kemma“, lacht Carl. Kein Wunder also, dass sich auch ihr Sohn politisch engagierte.
Dass Carl das elterliche Geschäft übernehmen würde, stand nie außer Frage. Sein Vater war im Krieg tödlich verunglückt, als er selbst drei Jahre alt war. Bald war festgelegt, dass Carl seine Nachfolge antreten würde. Er besuchte die Handelsschule in Feldkirch – wie sein Papa einst. Er war immer schon der „Geschäftsbua“. Carl fehlt dabei jede Erinnerung an jenen Mann, dessen Gene er trägt. Es gab viele Situationen in seinem Leben, in denen er sich den Vater an seiner Seite gewünscht hätte. „Aber so is des nun einmal.“

Glaube und Demut
Auch in dieser Beziehung hilft sein Glaube. Er weiß, dass ihm jemand zur Seite steht – in jeder Sekunde seines Lebens. Er weiß, dass er einst seine Frau wiederfinden wird, seinen Sohn und auch den Vater – „in einer Form, die wir uns nit vorstellen können, weil unser Gehirn damit überfordert is.“ Vor hundert Jahren hätten wir uns nicht vorstellen können, was wir eines Tags mit dem Handy machen können, zieht er einen Vergleich, wer weiß, was die Zukunft bringt?
„Glauben is schwierig“, sagt er, um den Glauben müsse man kämpfen, ihn praktizieren, jeden Tag. In der heutigen Zeit tun sich die Menschen schwer damit zu glauben – wir wollen alles wissen.

Dass wir weit davon entfernt sind, alles zu wissen, habe uns die Krise gezeigt. Carl war seit langer Zeit überzeugt davon, dass es zu einem „Crash“ kommen würde, er hätte allerdings aus ganz anderer Richtung damit gerechnet, und zwar mit einem starken Sonnenwind wie zuletzt im Jahr 1859. Damals sei nicht viel passiert, aber heute würde so ein Sonnenwind unser gesamtes digitales Leben lahmlegen, weiß Carl. Es sei angebracht, sich darauf vorzubereiten, um nicht in die Krise hineinzustolpern wie bei Corona. Was es dazu brauche? Hausverstand, meint er, und regionales Wirtschaften. Und Demut. „Nit de kriecherische Demut“, präzisiert Carl, „sondern das Annehmen-Können des Übergeordneten“. Demut sei leider zu einem Schimpfwort geworden, genauso wie das Wort „konservativ“. Dabei sei „konservativ“ gerade das Modernste, das Bewahren von Fundamenten, und da sind wir wieder beim Thema Tradition. Man müsse Altes bewahren, Traditionen pflegen und zugleich offen sein für das Neue, die Zukunft.

Die Musik macht glücklich
So hält er es auch für sich persönlich. Die Texte, von denen hier anfangs die Rede ist, schickte mir Carl per E-Mail, er zeigt sie mir auf dem Tablet. Er nimmt das digitale Zeitalter an, ohne auf seine Basis zu vergessen. Zu jener gehört auch die Gitarre, die in Reichweite zu uns an einen Stuhl gelehnt steht. An die 600 Auftritte hat Carl mit seinen Kollegen des „Vier­gsangs“ in der Kirche absolviert, unzählige Male abseits davon mit seinen Freunden musiziert. Es sind wunderbare, erfüllte Stunden, an die er sich gerne erinnert, wie zum Beispiel an Autofahrten, bei denen im Wagen lauthals gesungen und gelacht wurde. Das Singen, weiß Carl, ist gesund, es macht glücklich. Die „Schuig’scheiten“ sollten es in Therapien viel mehr einsetzen, meint er. Zumindest gebe es jetzt Ansätze dafür.

Auch heute noch greift Carl gerne zur Gitarre. Selbst, wenn aus dem „Viergsang“ inzwischen ein „Dreigsang“ geworden ist, weil einer der Freunde an einem Gehörschaden leidet.

Carl bewahrt sich seine Freude an der Musik. Und sein Gottvertrauen. Er liebt es, mit Jessy durch die Marktgemeinde zu spazieren. Zu sehen, wie sich der Ort weiterentwickelt – auf der Basis, die er selbst in vielen Bereichen entscheidend mitgestaltet hat. Vieles ist in Zukunft noch möglich, weit mehr, als wir uns heute vielleicht vorstellen können. Carl glaubt – auch daran.
Doris Martinz