Alkoholkranke Menschen können sich meist nicht selber helfen. Ihr Umfeld aber kann es sehr wohl, so Dr. Dag, Psychologe in Oberndorf.

In schwierigen Zeiten, so weiß man, greifen die Menschen eher zu „Tröstern“, die den Alltag erträglich machen – zu Drogen wie Kokain, Heroin, Beruhigungs- und Schlaftabletten, Extasy und mehr. Ich möchte von Dr. Armin Dag – Psychologe und Psychotherapeut in Oberndorf und als solcher für die Suchthilfe Tirol in der Beratungsstelle in St. Johann tätig – wissen, wie die aktuelle Situation in der Region ist. Denn die vergangenen von Corona geprägten Monate fallen wohl auf jeden Fall in die Kategorie „schwierige Zeit“. Wurden mehr Drogen konsumiert, gab es bei der Suchtberatung in St. Johann mehr Fälle? „Wenn wir von Drogen reden, müssen wir in erster Linie über Alkohol sprechen. Jener ist unbestritten unser größtes Problem, und ja, die Situation ist mit Corona schlechter geworden“, so Dr. Dag. Dazu gebe es zwar keine wissenschaftlichen Untersuchungen, doch der Eindruck dränge sich auf. Der Stress­pegel der Menschen sei in der Pandemie deutlich angestiegen – durch die Angst vor dem Ungewissen oder sogar Existenzangst aufgrund eines Jobverlusts, durch die Reduktion der Sozialkontakte. Das Suchtmittel Alkohol würde kurzfristig helfen, den Stress zu bewältigen. Längerfristig führt es zu Abhängigkeit, zu Alkoholismus.

Schleichende Veränderungen

Die jüngste Alkohol-Abhängige, die Dr. Dag jemals behandelte, war 13 (!) Jahre alt. Am stärksten betreffe das Thema aber die 40- bis 60-Jährigen. Dabei brauche es lange, manchmal viele Jahre lang, bis die negativen Erscheinungen des übermäßigen Alkoholgenusses sichtbar würden. „Bei manchen geht es langsamer, bei anderen schneller. Das hängt von der genetischen Gefährdung ab.“ Wie bei vielen anderen Krankheiten gebe es auch beim Alkoholismus familiäre Häufungen.
Die Erkrankung berührt aber nicht nur den Betroffenen/die Betroffene selbst, sondern das gesamte soziale Umfeld. „Alkohol zerstört Beziehungen, Familien, Leben“, weiß Dr. Dag aus jahrzehntelanger Erfahrung. PartnerInnen stellen fest, dass sich der/die Alkoholkranke verändert, „seine Feinheiten verliert“. Das, was ihn/sie als Persönlichkeit ausmacht. Betroffene selbst sind nicht in der Lage, das zu erkennen. Dr. Dag dazu: „Wenn man sich einem Suchtmittel anvertraut, wird man vereinnahmt, man verliert seine Identität, ist nicht mehr man selbst. Auch die banale Droge Alkohol verändert die Persönlichkeit mit der Zeit.“ Das Tückische daran: die Veränderungen sind ein schleichender Prozess, sie passieren allmählich und über einen längeren Zeitraum.
Das Gute: Es gibt Hilfe. „Die Angehörigen haben mehr Macht, als allgemein angenommen wird“, so Dr. Dag.

Hilfe ist möglich

Der Beratung der Angehörigen kommt bei der Suchthilfe-Beratungsstelle in St. Johann große Bedeutung zu. Sie ist der Ansatzpunkt, das Instrument, mit dem Alkoholkranken geholfen werden kann. „Es ist möglich, die betreffende Person über den Lebenspartner/die Partnerin quasi psychologisch einzukreisen, gewisse Hebel anzusetzen und so einzugreifen.“ Das Problem sei, dass nicht nur die Kranken selbst, sondern auch die Angehörigen sich oft der Alkohol-Erkrankung ihrer Lieben schämen, das „Spiel lange mitspielen“ und sich nicht einmal ihrem Hausarzt anvertrauen. Dabei beeinflusst die Alkohol­erkrankung des Partners/der Partnerin auch massiv die eigene Gesundheit. Es ist also ratsam, sich an Profis zu wenden, sobald das Thema im Raum steht – ohne jede Scheu oder Scham. Die Problematik ist leider eine weit verbreitete, und außerdem ist der Psychologe an die ärztliche Schweigepflicht gebunden.
Heilung gibt es nicht auf Knopfdruck, die psychologische Beratung und Begleitung zieht sich über Monate, vielleicht sogar länger. Aber: „Sie funktioniert fast immer. Man muss als Angehöriger nicht verzweifeln. Wir Psychologen befassen uns seit Jahrzehnten mit dem Problem, da ist uns schon einiges eingefallen, was hilft“, so Dr. Dag. Allerdings: „Wenn Angehörige nur zusehen und nichts unternehmen, passiert nichts. Aus eigener Kraft ist es meist nicht zu schaffen.“

Leben mit der Sucht

Alkohol führe zu einer Art Persönlichkeitsspaltung, das Denken von Betroffenen sei zweigeteilt, so Dr. Dag: Die eine Hälfte weiß, dass das Trinken zum seelischen und körperlichen Absturz führt, die andere verlangt nach dem Stoff, der kurzfristig entspannt und betäubt.
Der Aufenthalt in einer Entzugseinrichtung heilt nicht, sondern ist nur „das Sprungbrett in ein neues Leben ohne Alkohol“. Schwimmen müsse man ein Leben lang. Auch nach dem Entzug sei die Krankheit nur eingefroren, erklärt Dr. Dag, sie schlafe. Sobald man wieder Alkohol zu sich nimmt, ist sie wieder akut. Schlimmstenfalls reichen Süßigkeiten oder Nachspeisen, die Alkohol enthalten, oder Präparate der alternativen Medizin aus, um einen Rückfall auszulösen. Das bedeutet, man muss lernen, mit der Sucht zu leben, wie man es mit anderen chronischen Krankheiten tun muss.
Diabetes zum Beispiel ist unheilbar und bedeutet ein Leben lang Verzicht auf Vieles. Aber wenn man gut „eingestellt“ ist, kann man gut damit leben. Wenn man sich von Alkohol fernhält, kann man auch mit der Sucht gut leben. Aber das bedeutet Arbeit, Wachsamkeit und Achtsamkeit – ein Leben lang. Auch für die Angehörigen, die den Kranken/die Kranke begleiten, motivieren und unterstützen. Und es braucht ein Umfeld, das Rücksicht nimmt. Es braucht eine Gesellschaft, in der es ganz normal ist, auch mit Wasser oder Fruchtsaft auf ein Ereignis anzustoßen – ohne dafür gehänselt oder zum Alkohol gedrängt zu werden.

Nie mehr als drei Gläser!

Jeder von uns kennt alkoholkranke Menschen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es eigentlich unverständlich, dass wir der Volksdroge Nummer eins in unseren Familien immer noch so wenig Beachtung schenken. Dass, wer nie Alkohol trinkt, als nicht „normal“ angesehen wird. Dass man jedoch täglich oder sehr oft zu einer Droge greift, jedoch schon. „Eigentlich sollte es umgekehrt sein, aber das ist in unserer Gesellschaft eben so verankert“, sagt Dr. Dag. Alkohol-Konsumenten seien wirtschaftlich ja auch interessanter: Bier oder Wein werden besser, je mehr man trinkt – nach zwei oder drei Softdrinks hat man jedoch meist genug.
Dass es mit Alkohol im Freundeskreis lustiger ist, erfahren bereits die jungen Leute – sie sehen es ja bei den Erwachsenen. Manche wagen sich zum Beispiel nur auf die Tanzfläche, wenn sie etwas „intus“ haben, nur dann sind sie gelöst und selbstbewusst. Besser sei es, so Dr. Dag, sich bewusst ohne Alkoholeinfluss den Blicken der anderen auszusetzen und zu lernen, mit gewissen Situationen umzugehen. Damit mache man sich unabhängig vom Alkohol, erlebe Autonomie und Selbstbestimmung. „Und es ist ein gutes Gefühl, von nichts und niemandem abhängig zu sein“, so der Psychologe. Wie lautet seine Empfehlung im Umgang mit Alkohol? „Nie mehr als drei Gläser Prosecco, Bier oder Wein!“, sagt er mit Nachdruck.

Für einander da sein

Der Oberndorfer führt seit fast 30 Jahren seine Praxis. „Totale Lust auf den Ruhestand“ hat er noch nicht, die Arbeit mit seinen PatientInnen und in der Suchtberatung macht ihn immer noch zufrieden und gibt Sinn. Ausgleich findet Dr. Dag beim Sport und in der Musik – er ist Gitarrist in einer „Keller- und Probeband“, wie er lachend erzählt. „Dabei schalte ich total ab.“ Die Musik, das Erlernen eines Instruments oder das Tanzen sei etwas, das er vielen PatientInnen empfehle. „Weil es heilsam ist.“ Genauso, wie uns auch ein Spaziergang in der Natur gut tut oder echte Beziehungen und Freundschaften. Gemeinsam schaffen wir es auch durch schwierige Zeiten besser – weil wir aufeinander aufpassen können und uns gegenseitig stärken. Das gilt für die Pandemie genauso wie für Menschen, die im Umgang mit Alkohol unsere Hilfe brauchen. Bei letzterem ist unsere Macht, unser Einfluss, viel größer, als wir vielleicht vermuten. Und das, finde ich, ist eine wirklich gute Nachricht.

Doris Martinz

Nachsatz: Der Besuch und die Begleitung durch die Beratungsstelle sind kostenlos.