Winter ist’s, und in der Speckbacherstraße wimmelt es von Gästen. Man hört kaum ein einheimisches Wort mehr. Ein Desaster! Oder Glück?

Das ist Ansichtssache. Auf jeden Fall ist es ein Thema, über das man immer wieder einmal nachdenken und diskutieren sollte. Deshalb treffe ich mich auf ein Gespräch mit St. Johanns Tourismus-Chef Gernot Riedel. Auf dem Weg dorthin: Sehr viel Verkehr zwischen Kitzbühel und St. Johann, am Nothegger-Parkplatz zwänge ich mich mit Glück in eine letzte Lücke. Alles voll. Alles Gäste, die uns Einheimischen den Platz verstellen, nehme ich – leicht gereizt – an. Beim Vorübergehen sehe ich mir die Kennzeichen an. Hoppla, da sind ja mehr KB-Kennzeichen als gedacht.
So geht es uns mit dem Tourismus, bestätigt wenig später Gernot. Wir grollen und schimpfen gerne, weil die Pisten voll sind, die Lokale abends, so scheint es, nur mehr den Gästen gehören und die (ausländischen) Skifahrer beim Billa mit Skischuhen herumrennen und allen anderen im Weg stehen. Dabei vergessen wir gerne, dass wir das Skigebiet wahrscheinlich nur deshalb haben, weil es Gäste mitnutzen. Dass St. Johann nur deshalb so viele und schöne Lokale hat, weil auch Touristen hingehen. Und dass bei uns immer ein Lebensmittelgeschäft in unmittelbarer Nähe vorhanden ist, hängt auch nicht damit zusammen, dass wir mehr kochen und essen als die Leute in anderen Regionen. Vielleicht sollten wir uns das immer wieder mal vor Augen führen.
Klar, dass Gernot das so sieht, ist ja sein Job. Die Zahlen und Fakten, die er auf den Tisch legt, sprechen aber eine klare und objektive Sprache.

Die Touristik hat sich verändert
Da ist zum Beispiel nachzulesen, dass „Lang und Klang“, der bei vielen Einheimischen beliebte lange Einkaufsabend, inzwischen fast zu 100 % vom TVB organisiert und finanziert wird. OK, das mit den Wander- und Mountainbikewegen ist klar, und auch die Loipen fallen in den Zuständigkeitsbereich des TVB. Wobei dort weit mehr Einheimische als Gäste anzutreffen sind. Und die Panorama-Badewelt wird ganzjährig von bis zu zwei Drittel bis drei Viertel von Ansässigen genutzt. Das lässt sich halt nicht vermeiden, wenn man für die Gäste Einrichtungen schafft, oder? Sind wir Einheimische quasi der „Kollateralschaden“?
Mitnichten. „Das Touristikgeschäft hat sich verändert. Längst geht’s nicht mehr nur um die Entwicklung des Tourismus, sondern um’s Gestalten von Lebensraum“, stellt Gernot klar. Und dieser Lebensraum gehört nun einmal allen gemeinsam, wir alle sind Teil davon. Wir, aber auch die Gäste des Orts. Angebote sind für alle bestimmt, einheimische Interessen werden in den Planungen genauso berücksichtigt wie jene für Touristen. Manche Einrichtungen sind sogar primär als Infrastruktur für Einheimische vorhanden und weniger als buchungsentscheidendes Angebot für den Gast. „Sonst würde es vielleicht einen neuen Tauwiesenlift oder einen Lift in Kirchdorf schon jetzt nicht mehr geben. Manche Einrichtungen können wir uns nur leisten, eben weil es Tourismus gibt“ weiß der erste Touristiker im Ort.
Neulich wurde er in einer Skihütte unbeabsichtigt Zeuge eines Gesprächs zwischen zwei einheimischen Damen. Die eine (eine Krankenschwester, wie der Unterhaltung zu entnehmen war), beschwerte sich lauthals über die vollen Pisten; die andere reklamierte die hohen Kartenpreise. Schuld – so der einhellige Tenor – ist nur der Tourismus. Was beide in diesem Moment nicht bedachten: Ohne ihn wäre vielleicht eine von ihnen arbeitslos oder zumindest Pendlerin. Denn dass sich St. Johann ein Krankenhaus in der bestehenden Größenordnung ohne den – bedauerlichen und unfreiwilligen – Beitrag der Gäste leisten könnte, ist äußerst unwahrscheinlich. Dieses Beispiel verdeutlicht ganz gut, wie tiefgreifend der Tourismus unsere Region gestaltet, und wie sehr wir auch von ihm profitieren. Zum Beispiel auch, indem er Arbeitskräfte in die Region bringt, die Firmen wie Egger oder auch das Krankenhaus dringend benötigen. Wer arbeitet nicht lieber in St. Johann mit seinen immens vielen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, als in einer Region, in der weder Skipisten noch Badeseen in Reichweite sind?

Linien verschwimmen
„Wir versuchen, schon weit über die Grenzen des Tourismus hinaus zu denken“, sagt Gernot. Da gehört auch die Landwirtschaft dazu, Nachhaltigkeit bei regionalen Produkten. All das fließt immer stärker in die Arbeit des TVB-Teams ein. Wo früher klar abgegrenzt wurde, verschwimmen heute die Linien und Zuständigkeiten. Zum Wohle aller.
Auch wenn unsere Wahrnehmung immer wieder verzerrt ist durch hohes Verkehrsaufkommen und volle Pisten. Gerade, was den Verkehr betrifft, sollten wir uns aber wohl öfter selber bei der Nase nehmen. Denn den können wir keineswegs einfach auf die „Fremden“ abschieben, da ist schon viel Selbstgemachtes dabei. Wenn man sich die Kennzeichen ansieht, kommt man auf jeden Fall zu diesem Schluss.
Tatsache ist, dass der Tourismus zum Wohlstand der gesamten Bevölkerung beiträgt, das kann man nicht vom Tisch wischen. Es gibt Tage, an denen wirklich der Parkplatz voll ist, an denen unzählige Touristen im Ort unterwegs sind. Aber die ganz starken Tage, sie sind aufs Jahr gesehen wenige. Sie sind zumutbar. Vor allem, wenn wir uns bewusst machen, dass wir alle von ihnen profitieren.
Es fällt leichter, den einen oder anderen negativen Aspekt in Kauf zu nehmen, wenn man das große Ganze im Auge behält.
Doris Martinz