Kinder kämpfen gegen Kilos: Dr. Petra Hengl über ihre Erfahrungen in der Adipositas-Ambulanz im Krankenhaus St. Johann.

Früher gab es in jeder Schulklasse eine „Dicke“ oder einen „Dicken“ (freundlich gesagt). Heute sitzen durchschnittlich fünf übergewichtige Kinder in einem Klassenzimmer. Alle Statistiken belegen: Die österreichischen Kinder und Jugendlichen, auch jene in Tirol, werden immer beleibter. „Corona hat die Situation noch verschärft“, weiß Kinderärztin Dr. Petra Hengl,­ Krankenhaus St. Johann. Manche seien vor der Pandemie noch „pummelig“ gewesen – jetzt sind sie krankhaft übergewichtig und damit „adipös“. Adipositas, die Fettleibigkeit, zählt zu jenen Erkrankungen, die weltweit zu immer größeren Problemen führt. Denn ihre Folgen sind oft schwerwiegend: Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall, Fettleber oder auch Schlafapnoe können mit ihr in engem Zusammenhang stehen. Meist sind die Betroffenen schon seit Jugendjahren „dick“. Darauf zu hoffen, dass sich bei einem Kind „die paar Kilos zu viel“ schon von selbst „auswachsen“ werden, ist also nicht unbedingt anzuraten. Besser geht man ein sich abzeichnendes Problem so früh wie möglich an und wendet sich an den Haus- oder Schularzt/die Haus- oder Schulärztin oder den niedergelassenen Kinderarzt/die Kinderärztin. Wenn notwendig, folgt die Überweisung an eine spezialisierte Einrichtung wie die Adipositas-­Ambulanz am Krankenhaus St. Johann. Hier kümmert sich Dr. Petra Hengl um jene Kinder, die mit der Waage „auf Kriegsfuß“ stehen. Und um ihre Familien, denn Übergewicht betrifft das gesamte Umfeld: Wenn die Ernährung umgestellt wird, müssen das alle mittragen. „Auch der Papa muss dann seine Schokolade rausrücken“, sagt Dr. Hengl augenzwinkernd.
Die 40-Jährige stammt ursprünglich aus Oberösterreich und lernte im Hörsaal der Universität ihren Mann Christian kennen, der heute als Internist seine eigene Praxis in Kitzbühel führt. Sie erinnert sich daran, dass sie schon im Alter von drei Jahren Kinderkrankenschwester werden wollte. Später, bei einem Pflegepraktikum, stellte sie fest, dass sie genau das wissen wollte, was die Ärzte/Ärztinnen wussten. Sie holte die Matura nach und absolvierte das Medizinstudium. Dass es in Richtung Pädiatrie, also Kinderheilkunde, gehen sollte, stand dabei immer fest. Die Arbeit mit Kindern ist das, was die zweifache Mutter glücklich macht. Unter anderem auch deshalb, „weil man bei jungen PatientInnen noch so viel erreichen und in die richtigen Bahnen lenken kann.“ Das gilt auch für Übergewicht.

Drei Säulen

Dr. Hengl weiß, wovon sie spricht. Als Fachärztin, aber auch als Mensch. „Als Jugendliche war ich zwar nicht adipös, aber ich hatte einige Kilos zu viel auf den Rippen. Obwohl meine Eltern mich unterstützten, habe ich mich mit meinem Problem irgendwie alleine gelassen gefühlt. Ich habe mir damals eine Stelle gewünscht, an die ich mich hätte wenden können. Jemanden, der mir sagt, was ich tun kann um abzunehmen.“ Heute hat Dr. Hengl Normalgewicht und ist selbst „diese Stelle“.­ Sie weiß, dass es für viele Menschen nicht einfach ist, sich mit Gewichtsproblemen in der Ambulanz zu melden. Viele Kinder empfinden es als „peinlich“, ihre Eltern fürchten die Kritik an den Ernährungsgewohnheiten der Familie. Dabei geht es um mehr als nur ums Essen. „Eine Behandlung ruht immer auf den drei Säulen Verhaltenstherapie, Bewegungstherapie und Ernährung“, weiß Dr. Hengl. Es brauche alle drei Bereiche, um nachhaltig erfolgreich zu sein und Gewicht abzubauen.
Beim ersten Termin nimmt Dr. Hengl eine gründliche Anamnese vor, das heißt, sie erfasst die gesamte Vorgeschichte ihres jungen Patienten/ihrer Patientin. Das Feststellen des aktuellen Körpergewichts gehört genauso dazu wie das Festhalten der Essgewohnheiten, der körperlichen Fitness und Beweglichkeit sowie das Messen des Umfangs von Brust, Bauch und Hüfte. Später werden mit einer Blutabnahme die Blutfette bestimmt sowie auch die Zucker-, Leber- und Schilddrüsenwerte. Bei Bedarf werden auch weitere Untersuchungen wie zum Beispiel ein oraler Glukosetoleranztest oder ein Bauchultraschall gemacht. Erschreckend oft diagnostiziert Dr. Hengl bereits eine Vorstufe von Diabetes, erhöhte Leberwerte oder sogar Leberverfettung.
Oft kommen Eltern mit der Annahme oder schon fast Hoffnung in die Ambulanz, ihr Kind leide an einer Schilddrüsenunterfunktion. Jene könnte man mit Tabletten behandeln, Gewichtsverlust wäre die Folge – die einfachste Art und Weise, Kilos zu verlieren. Das Problem: „Meist steckt nicht die Schilddrüse hinter dem Übergewicht und auch keine andere Erkrankung. Der Grund, warum viele Kinder zu dick sind, ist einfach jener, dass sie zu viel essen, also zu viele Kalorien zu sich nehmen – und sich zu wenig bewegen, also zu wenig Kalorien verbrennen. Das ist eine ganz einfache Milchmädchenrechnung“, so Dr. Hengl.

Aha-Erlebnis

Nach dem ersten Treffen notieren das Kind und/oder seine Eltern vier Wochen lang, was und wieviel das Kind isst und wie viel es sich bewegt. Das Ergebnis wird gemeinsam besprochen. Es bringt meist ein Aha-Erlebnis und zeigt, dass es oft wirklich massiv an Bewegung mangelt. Wo ein Defizit herrscht, gibt es auf der anderen Seite einen Überschuss: bei den Stunden, in denen das Kind mit dem Handy oder am PC/Tablet spielt oder fernsieht.
Gemeinsam werden Ziele festgelegt, gemeinsam überlegt man, wie sich ungesunde Lebensgewohnheiten verändern lassen und mehr Bewegung in den Alltag kommen kann.
In puncto Ernährung empfiehlt Dr. Hengl den Besuch der Avomed-Ernährungsberaterin Alexandra Hotter in ­­­
St. Johann­ (wir haben in unserer Novemberausgabe 2020 über sie und ihre Arbeit berichtet). Die Avomed ist ein Arbeitskreis für Vorsorgemedizin und Gesundheitsförderung in Tirol, die Beratung ist für Kinder kostenlos. Es gibt übrigens keine Diät, die für Kinder empfohlen wird. Es sind mitunter schon Kleinigkeiten wie das Weglassen von gezuckerten Säften, die Erfolg bringen. Zur Ernährungsberatung sind nicht nur Eltern und Kind geladen, sondern auch die Oma oder andere haushaltsführende Personen, wenn das Kind viel Zeit dort verbringt. Alle müssen die Umstellung mittragen – und letztendlich profitiert jeder davon.

Strahlende Gesichter

Alle drei Monate kommt das Kind weiterhin in die Ambulanz. Am Anfang geht es meist gar nicht ums Abnehmen: „Es soll kein Druck aufgebaut werden. Ein Erfolg ist es bereits, wenn der junge Patient oder die junge Patientin nicht weiter zunimmt, denn er oder sie wächst ja noch.“ Dr. Hengl­ strahlt selbst über das ganze Gesicht, als sie davon erzählt, wie schön es ist, wenn ihre kleinen PatientInnen mit einem glücklichen Lächeln zur Tür hereinkommen, weil die Hose jetzt ganz locker sitzt.
Es geht ihr nicht darum, dass ihre PatientInnen Schönheitsideale erfüllen. Sie sollen gesund sein und einmal vitale, fitte Erwachsene sein. Aber natürlich spielt das Aussehen für die Kinder eine wichtige Rolle, gerade im Alter zwischen zehn und 16 Jahren, also in der Pubertät. Dicke Kinder werden gemobbt, „geghostet“ (plötzlicher Kontaktabbruch) oder „gedisst“ (von „dislike“). Übergewicht kann zu schweren psychischen Belastungen führen, deshalb ist die psychologische Begleitung betroffener Jugendlicher wichtig. „Leider sind wir in der Region versorgungsmäßig nicht gut aufgestellt“, bedauert Dr. Hengl. Hier gebe es starken Aufholbedarf, so die Kinderfachärztin.
Die Adipositas-Ambulanz sei keine Einrichtung, in der sie mit ihren PatientInnen täglich Erfolge feiere und sie nach kurzer Zeit als geheilt entlasse, so Dr. Hengl. Es gehe auf und ab, wie es im Leben halt so ist. „Wichtig ist, dass es zum Schluss passt.“ Zum Schluss – das bedeutet spätestens dann, wenn das Kind erwachsen ist und gelernt hat, wie es sein Körpergewicht positiv beeinflussen und gesund leben kann. „Es hat dann ein Werkzeug zur Hand und weiß, was gut ist und was nicht.“
Auf jeden Fall sei es enorm wichtig, etwaige Probleme frühest möglich anzugehen. „Je jünger die Kinder sind, desto leichter kann man ihnen helfen.“
Sieben Prozent der Gesamtkosten des Gesundheitswesens in der EU werden für die Behandlung von Adipositas und ihre Folgen aufgewendet, so Dr. Hengl. Vorbeugung würde eine Menge Kosten sparen. Aber vor allem macht das Ernstnehmen und Behandeln von Übergewicht die betroffenen Kinder zu glücklichen, selbstbewussten Erwachsenen, deren Leben sich nicht immer nur um Kilos dreht. 

Doris Martinz