Andrea Hausers Erfahrungen decken sich mit jenen der Forschung.

Als ich die Kinderkrippe im Kinderbetreuungszentrum „KIM“ besuche, herrscht im Gang ein buntes Gewusel. Zwei Gruppen machen sich gerade auf den Weg hinaus ins Freie. Die Kleinen sind dick eingepackt in ihre Schneeanzüge, sie tragen Mützen, Schal und Handschuhe, manche der kleinen Buben und Mädchen halten sich an den Händen. Aus dem Stimmengewirr dringen einzelne Wörter an mein Ohr wie „aussi“ oder „kimm!“, geformt von hellen, hohen Kinderstimmen. Andreas Blick gleitet liebevoll über ihre kleinen Schützlinge, sie alle sind zwischen eineinhalb und drei Jahre alt. „Für mich ist das das schönste Alter“, meint die Leiterin der Kinderkrippe. „Weil das Wesen der Kinder noch das des Urmenschen ist, weil sie noch so unbedarft und gut sind. Ich bin keine Ärztin oder Wissenschaftlerin, aber ich erlebe das jeden Tag hier bei uns.“
Mit ihrer Einschätzung liegt die 59-Jährige nicht alleine. Der holländische Historiker Rutger Bregman behauptet in seinem Buch „Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit“, dass wir Menschen von Natur aus sozial und hilfsbereit sind. Gerade in Zeiten der Pandemie könnte man jedoch den Eindruck bekommen, das genaue Gegenteil sei der Fall. Ist man in der Krise anfangs noch zusammengerückt, spaltet der anhaltende Druck nun die Gesellschaft. Außerdem gibt es in der Geschichte der Menschheit mit all den Kriegen, mit all dem gegenseitigen Morden und Verletzen wohl genug Beispiele dafür, dass der Mensch alles andere als friedliebend und gut ist. Und dennoch bleibt der Historiker bei seiner Aussage, und Andrea macht täglich ihre positiven Erfahrungen. Warum?

Nett macht erfolgreich

Dass der Mensch im Grunde seines Herzens nett und hilfsbereit ist, so Bregman, sei evolutionsgeschichtlich zu erklären: Die Zusammenarbeit machte den Menschen kollektiv schlauer und stärker. Nur so konnte unsere Spezies das raue Klima der letzten Eiszeit überstehen – anders als viele anderen Säugetiere. Homo sapiens hat sich damals auch gegen den stärkeren und wahrscheinlich schlaueren Neandertaler durchgesetzt – weil Homo sapiens freundlicher war, besser mit anderen zusammenarbeitete und sozialer war. Ein wissenschaftlicher Ausdruck dafür ist „Überleben des Nettesten“. Ausgedehnte Konflikte und Kriege entwickelten sich, so Bregmans Erkenntnis, erst dann, als unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler, ihr Nomadenleben aufgaben und sesshaft wurden. Denn erst damit wurde der „Besitz“ erfunden, den die Nomaden ja zuvor nicht mit sich herum schleppen konnten. Mit dem Besitz kam es zu Ungleichheiten zwischen den Menschen und damit zu Streit. Zudem machte uns das sesshafte Leben misstrauischer gegenüber Fremden.

 

Gutes tun fühlt sich gut an

Kinder im Alter von eineinhalb bis zirka drei Jahren lernen erst, was Besitz ist. Zuvor ist es für sie ganz selbstverständlich, alles zu teilen und sich gegenseitig zu helfen, das erlebt Andrea seit 20 Jahren in ihrer Arbeit mit den Kleinsten in unserer Gesellschaft. „Grundsätzlich ist ein Kind einfach liebenswürdig, hilfsbereit und einfühlsam. Es sieht immer die Nöte der anderen Kinder. Wir haben Schützlinge, die laufen, um Taschentücher zu bringen, wenn bei einem anderen Kind die Nase rinnt.“ Es sei einfach nur schön, zu sehen, wie beglückt die Kleinen sind, wie sie lachen und strahlen, weil sie dem anderen Kind aufgeholfen haben, weil sie einem anderen die Puppe gegeben haben. „Weil sie tief drinnen spüren, dass sie etwas Gutes getan haben. Ganz ohne Worte, sie können oft ja noch gar nicht reden.“ Andrea und ihr Team erleben Kleinstkinder so, wie der Mensch im Grunde seines Herzens ist. Viele der Kleinen seien regelrecht versessen darauf, anderen zu helfen. „Und das ist einfach nur schön!“

Zu gut für die Welt?

Natürlich sei nicht jedes Kind gleich, aber die Tendenz zur Freundlichkeit und zu ausgeprägtem Sozialverhalten sei bei allen zu beobachten. Es gebe auch Kleine mit besonders sozialer Ader, so Andrea. „Wir hoffen dann immer, dass sie ihre feinfühlige und sensible Art behalten.“ Die Eltern haben manchmal aber auch Bedenken: Denn die Nettesten in der Gesellschaft sind nicht immer die, die sich durchsetzen oder sich gut zu wehren wissen. „Wir leben in einer Ellbogengesellschaft“, meint auch Andrea. „Niemand will, dass sein Kind ein Opfer von Mobbing wird. Deshalb macht man sich manchmal Sorgen, ob sein Kind nicht etwa zu gut für die Welt ist, ich kenne das von mir selber.“
Andrea ist Mutter von drei Kindern. Ihr und ihrem Mann Hans war es immer wichtig, ihnen die hohen Werte der Familie mit auf den Weg zu geben: Ehrlichkeit, Treue, Sportlichkeit. Man könne­ ja nicht erziehen, so An­drea, sondern nur vorleben. In der Familie Hauser hat es wohl geklappt, denn alle drei Sprösslinge machen heute ihren Weg: Sohn Hans junior ist als Musikpädagoge und Musiker unter dem Künstlernamen „hhanoi“ erfolgreich (wir haben in der St. Johanner Zeitung bereits berichtet), Sohn Alexander war Profifußballer und ist jetzt Co-Trainer beim FC Salzburg und Tochter Lisa macht mit ihrem Projekt „Kochen mit Herz“ als Kochbuchautorin und Foodbloggerin von sich reden. Musikalität wurde allen dreien von zuhause aus mitgegeben, denn die Familie Hauser managte früher die Trachtengruppe Hauser. „Das Vorleben ist, glaube ich, das Wichtigste“, sagt Andrea. „Jede Mutter, jeder Vater gibt, was er geben kann, und das ist bei jedem etwas Anderes.“ Wichtig sei es, bei den Kindern nicht die eigenen Erwartungen und Vorstellungen durchsetzen zu wollen. „Die kleinen Lebewesen muss man so sein lassen, wie sie sind.“ Grenzen zu setzen, sei natürlich notwendig, auch in der Kinderkrippe.

Enttäuschungen verändern

Wenn die Kleinen im Außenbereich des KIM spielen, helfen sie sich gegenseitig den Hügel hinauf, sie schieben und ziehen sich gegenseitig. Doch je älter die Kids werden, desto häufiger hört man auch Phrasen wie „Di måg i nit!“. „Im Laufe der Zeit erfahren die Kinder von anderen Kindern oder Erwachsenen Enttäuschungen, ihre Unbefangen-
heit verliert sich zum Teil“, erklärt An­drea. Hunderte Kinder seien während ihres Berufslebens durch ihr Herz gegangen, immer wieder habe sie die beginnenden Veränderungen erlebt. „Wie schön wäre die Welt, wenn Kinder wenigstens bis zum Alter von zehn Jahren so bleiben würden, wie sie bei uns in der Kinderkrippe sind. Dann gäbe es kein Mobbing und keine verletzten Kinderseelen“, meint Andrea nachdenklich.
Vielleicht sollten wir uns aber auch als Erwachsene öfter auf unsere grundsätzlich guten Anlagen besinnen. Und nachspüren, wie gut es tut, anderen zu helfen. Wie froh es uns selbst macht, andere glücklich zu machen. Gerade jetzt.

Doris Martinz