Woher die „freie Musik“ stammt, und warum es nicht abwegig ist, einmal in eine andere Richtung zu hören.

Im September letzten Jahres war ich zum ersten Mal beim artacts-Festival. Zugegeben: Als die MusikerInnen in ihre Instrumente bliesen, dachte ich, sie würden ihre Trompeten, Klarinetten und Co erst einmal stimmen. Dabei waren die Klänge, die sie in einem für mich wilden Durcheinander erzeugten, schon das Konzert. Das hörte sich für meine Ohren sehr „strange“ und überhaupt nicht nach Musik an. ABER: Irgendwie gewöhnte ich mich nach einer halben Stunde an die Fremdartigkeit und fand schließlich immer wieder einzelne Klänge oder das Zusammenwirken mehrerer zumindest interessant. Ich werde heuer im März wieder hingehen. Dann bin ich schon „fortgeschritten“ und der Einstieg wird mir leichter fallen, davon bin ich überzeugt. Warum ich mir das antue? Nein, nicht, weil ich darüber schreibe. Das werde ich gar nicht tun, weil es sich zeitlich für die St. Johanner Zeitung nicht mehr ausgeht. Vielmehr habe ich Lust auf Neues, ich bin neugierig auf das, was „die“ diesmal Schräges aufführen bei artacts. Ich will Ungehörtes erleben. Etwas, das meine Ohren noch nie vernommen haben.

 

Große Komponisten auf „Abwegen“

Frei interpretierte Musik ist keine Erfindung der Neuzeit. Nein, schon im Barock sei frei experimentiert worden, erklärt mir „Jazz-Hans“ Hans Oberlechner beim Gespräch. So hatten beispielsweise die großen Komponisten Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Christoph Willibald Gluck ihre Freude daran, nicht nur wohlklingende Melodien zu schreiben, sondern auch mit Geräuschen und Klängen zu arbeiten. Bei ihren Livekonzerten spielte die improvisierte Musik eine große Rolle. Jenseits des großen Teiches, in den USA, entwickelte sich freie Musik aus dem Freejazz der 50er und 60er Jahre. Sie basiert auf der Jazztradition, löst aber sämtliche rhythmische und harmonische Strukturen auf und trifft damit natürlich nicht den Mainstream. Freie Musik war immer schon speziell, die Szene überschaubar. Umso erstaunlicher, dass sich ein kleiner Ort wie St. Johann zu einem Hotspot der etwas anderen Musik entwickelte. „Ich empfinde das selber als Phänomen“, so Hans. In ganz Österreich gibt es nur vier Festivals für freie Musik, und zwar in so kleinen Orten wie Nickelsdorf im Burgenland (keine 900 EinwohnerInnen), in Ulrichsberg im Mühlviertel (keine 3.000), in Wels (eine Ausnahme, weil größer) und St. Johann. Wobei es vielleicht kein Zufall ist, dass sich das Freie und Wilde in der Musik gerade bei uns ansiedelte, mutmaßt Hans: „In unserer Region liegt der Schwerpunkt auf dem Tourismus. Diese Fokussierung zieht sich in alle Lebensbereiche, beeinflusst das gesellschaftliche und künstlerische Leben und ruft damit fast automatisch Gegenströmungen hervor.“ Freie Musik als Ausgleich zum Schunkeln im Festzelt? Interessant.

Soundpainting – Bilder im Kopf

Freie Musik entwickelt sich auch durch das aufeinander Hören der Musizierenden, durch das gegenseitige Zuhören, dadurch, einen „Faden“ aufzunehmen und weiterzuspinnen. Oft sind die In­strumente als solche gar nicht mehr zu erkennen, man arbeitet mit Geräuschen. Ist das überhaupt noch Musik? „Das ist Musik!“, sagt Hans mit einer Färbung in der Stimme, die keinen Widerspruch duldet. Eine Musik, die sich nicht auf Notenblätter stützt, die ohne konkrete Vorgaben mehr oder weniger spontan entsteht. Freie Musik funktioniert auch mit Chören, die Stimmen formen dann auch Geräusch-Folgen statt Tonmelodien. „Soundpainting“ nennt man das. Ein schöner Begriff, finde ich. Weil – so man sich darauf einlässt – auch beim Hören freier Musik Bilder im Kopf entstehen. „Da passiert was im Geist“, sagt Hans. „Jeder empfindet das anders.“
SchülerInnen des Gymnasiums St. Johann eröffneten einmal ein artacts-Festival mit einem Flashmob. Die jungen Leute waren mit viel Begeisterung dabei, und auch das Publikum war angetan. Weil das Neue, das Ungehörte, neue Kammern in unserem Ohr und in unserem Gehirn öffnet. „Alles, was es dazu braucht, ist ein offener Geist“, so Hans. Er hat auch heuer intensiv an der Dramaturgie des Festivals gearbeitet.
Für ihn ist es wichtig, einmal wegzukommen von dem Aha-Erlebnis: Aha, das kenne ich, das mag ich – oder auch nicht. Frei improvisierte Musik hat man so, wie sie bei artacts gespielt wird, noch nie gehört. Weil sie immer anders klingt. Es schadet nicht, einmal in eine andere Richtung zu denken beziehungsweise zu hören. Vielleicht öffnet sich das Ohr dann ja für versteckte Musik im Alltag? Hans erinnert sich an das Tuckern eines Fischerboots im Urlaub. Ich denke an das metallische Hämmern des MRT-Geräts letztens. Es braucht nicht immer Noten, um Musik zu sein. Aber es braucht immer einen offenen Geist.

Doris Martinz

 

Programm

Freitag, 11. März, 19 Uhr
Fotoausstellung NOTE A MARGINE – Luciano Rossetti // GNYXE: Irene Kepl, Carl Ludwig Hübsch, Jakob Gnigler, Katharina Ernst // PUNKT.VRT.PLASTIK: Kaja Draksler, Petter Eldh, Christian Lillinger // ZIMT: Angélica Castelló, Barbara Romen, Kai Fagaschinski, Burkhard Stangl, Gunter Schneider // SESTETTO INTERNAZIONALE: Harri Sjöström, Gianni Mimmo, Phil Wachsmann, Veli Kujala, Achim Kaufmann, Ignaz Schick

Samstag, 12. März, ab 15 Uhr
Fotoausstellung NOTE A MARGINE – Luciano Rossetti // LAUSCHEN & PLAUSCHEN mit Katahrina Ernst // SJÖSTRÖM/KUJALA // MIMMO/WACHSMANN // KAUFMANN/SCHICK // GARD NILSSEN’S ACOUSTIC UNITY: Andre Roligheten, Petter Eldh, Gaard Nilssen // ALSO: Martin Siewert, Katharina Ernst // CUT-TRIO: Tanja Feichtmair, Cene Resnik, Urban Kušar // DIKEMAN/SCHWERDT/LILLINGER: John Dikeman, Oliver Schwerdt, Christian Lillinger

Sonntag, 13. März, 19 Uhr
Fotoausstellung NOTE A MARGINE – Luciano Rossetti // KNARR: Ingebrigt Håker Flaten, Oscar Grönberg, Oddrun Lilja, Jonsdottir, Eivind Lønning, Veslemøy Narvesen, Atle Nymo, Olaf Olsen, Mette Rasmussen 77 // CZAJKA & PUCHACZ: Kaja Draksler, Szymon Gasiorek // HUMANIZATION QUARTET: Rodrigo Amado, Luís Lopes, Aaron Gonzalez, Stefan Gonzalez Performance // www.artacts.at, info@artacts.at, +43 5352 61284