Primaballerina Viktoria Tkach erzählt von ihrer Flucht, von Momenten, in denen die Welt stillsteht, von Angst und Hoffnung.

Vor dem Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine zählt Lwiw – früher Lemberg – zu den schönsten Städten der Ukraine. Sie ist ein bei Touristen sehr beliebtes Ziel und wird von vielen europäischen Städten aus direkt angeflogen. Die Kirchen und Museen sind voll mit BesucherInnen, die Straßen belebt. Die Menschen erfreuen sich an der Atmosphäre dieser historischen Stadt im Westen der Ukraine, 60 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, ihre Altstadt ist Weltkulturerbe der UNESCO. Hier wächst Viktoria Tkach im Kreise ihrer Familie auf. Wie viele andere kleine Mädchen träumt sie davon, eines Tages Primaballerina zu werden. Während es bei den meisten beim Träumen bleibt, besucht Viktoria schon bald die Ballettschule der Stadt und verfolgt ehrgeizig ihr Ziel. „Wenn ich durch die Straßen ging und andere Kinder traf, die spielten oder sich einfach mit Freunden trafen, kam mir das ganz seltsam vor“, erinnert sich Viktoria. Sie selbst hat damals kaum Zeit für solche Dinge. Das Tanztraining geht vor. Die Eltern unterstützen ihr Kind, drängen es aber nie zu etwas, das es selber nicht will. „Das möchte ich mit meinen Kindern auch so machen“, sagt sie.
Wir treffen uns im Studio der Austria Tanz Akademie in St. Johann. Es fällt Viktoria schwer, von ihrer Heimatstadt zu berichten, von ihrer Schönheit. Es schmerzt. Wir unterhalten uns in Englisch. Sie versteht Deutsch ganz gut, ist beim Sprechen aber sicherer in Englisch.
In der Nacht, in der der Krieg beginnt, kommen sie und ihr Mann Serjih Kachura, einer der besten Ballettkünstler Europas, erst gegen drei Uhr morgens ins Bett. Sie haben an einer neuen Aufführung gearbeitet, am kommenden Tag steht die Generalprobe an. Sie wissen zwar, dass die Russen an der Grenze Stellung bezogen haben, doch dass sie wirklich mit aller Härte und Grausamkeit angreifen werden, daran glaubt niemand. Bis zu jenem Augenblick, in dem gegen fünf Uhr morgens das Telefon läutet. Serjih geht ran. Als er wieder auflegt, sagte er: „Es hat angefangen.“ „Ich werde diesen Moment nie mehr vergessen, er hat mein Leben komplett verändert“, sagt Viktoria. Für sie, ihren Mann und die beiden Söhne Matthias, 10 Jahre alt, und Nikita, 5 Jahre, ist ab jenem Moment plötzlich nichts mehr so, wie es gerade noch war. Viktoria schüttelt den Kopf. Sie sagt, sie könne es im Prinzip auch jetzt noch nicht fassen, dass es einen Grund dafür geben soll, dass Menschen andere Menschen angreifen und töten. Dass man den Tod von Kindern in Kauf nimmt. Nicht nur in der Ukraine, auf der ganzen Welt.

Der Krieg kommt näher

Gleich zu Kriegsbeginn kommen die Raketen auch bis in den Westen des Landes, nach Lwiw. Selbst während der Nacht ertönt mehrmals der Luftalarm. Viktoria, ihr Mann und die beiden Buben flüchten – wie alle anderen – aus ihrer Wohnung in den Keller des Gebäudes. Gerade noch stand sie auf der Bühne, jetzt versucht sie, sich irgendwie im Chaos des Kellers einzurichten. Tagsüber helfen Viktoria und ihr Mann bei der Versorgung der vielen Flüchtlinge, die aus allen Landesteilen auf dem Weg nach Europa in die Stadt strömen – Männer, Frauen, Kinder. Sie haben oft nur das am Leib, was sie im Moment der Flucht trugen. Oft fällt der Strom aus, die Zustände sind chaotisch. „Das kann man sich hier, im sicheren St. Johann, nicht vorstellen“, sagt Viktoria. Sie will auch gar nicht, dass wir uns die Situation vorstellen können – das soll uns erspart bleiben, so die Ukrainerin. Die Luftangriffe werden im März 2022 immer häufiger. „Am schlimmsten ist es am Abend“, so Viktoria. „Weil man weiß, was in der Nacht passieren kann. Du schaust deine Söhne an und hast Angst, dass es vielleicht der letzte Blick auf deine Kinder ist.“
Viktoria ist eine zarte, kleingewachsene Frau. Doch wenn sie auf der Bühne in eine Rolle schlüpft, erscheint sie stark und groß, sie wächst über sich hinaus. Mehrmals habe ich ihre Tanzkunst, ihre intensive Ausdruckskraft bei Benefizveranstaltungen in der Region schon erleben dürfen. Als sie von diesen furchtbaren Momenten erzählt, spüre ich die große innere Kraft, die in dieser kleinen, zarten Person steckt. Ihr Körper ist gestählt vom harten Tanztraining; das, was sie gesehen und erlebt hat, hat ihren Geist nur noch stärker gemacht.

Verschnaufpause

In Lwiw nimmt sie nach einigen Wochen wieder das Training auf. „Man musste etwas tun, sonst wäre man verrückt geworden. Und auch das Publikum brauchte das Theater, die Abwechslung.“ Die Angriffe hören jedoch nicht auf, ganz im Gegenteil. Ein Freund, den sie von Touren in Österreich und der Schweiz kennt, ruft sie immer wieder an und sagt ihr, sie sollen flüchten, er würde helfen. Aber Viktoria lehnt ab. Eines Nachts entschließt sich die Familie, auch bei einem Alarm in der Wohnung zu bleiben und sich nicht im Keller in Sicherheit zu bringen – die durchwachten Nächte zuvor haben müde gemacht und erschöpft, vor allem die Kinder. So legen sich Viktoria, ihr Mann und die beiden Buben im Eingangsbereich der Wohnung am Boden zur Ruhe – es ist der einzige Platz in der Wohnung, der kein Fenster hat und hinter ein zweiten Wand liegt (bei einem Einschlag in der Nähe zerbersten durch die Druckwellen die Fenster, sie können eine Wand durchschlagen, im seltenen Fall jedoch auch eine zweite). Irgendwann fällt auch Viktoria in einen leichten Schlaf und erwacht vom Zischen der Raketen. „Du fühlst richtiggehend, wie die Menschen im ganzen Land den Atem anhalten und voller Angst darauf warten, wo die Raketen einschlagen. Diese Stille ist grauenvoll, und du hast eine animalische Angst um deine Kinder“, beschreibt es Viktoria.
Die Einschläge kommen immer näher. Wenn sie schon nicht ihretwegen flüchten wolle, so müsse sie es nun der Kinder wegen tun, sagt ihr Freund am Telefon. Endlich findet er Gehör. Serjih und Viktoria vereinbaren schließlich, dass sie mit den Kindern für einen Monat nach Deutschland geht, um dort den Buben eine Verschnaufpause zu verschaffen und selber wieder zu Kräften zu kommen. So macht sich die Primaballerina im April 2022 mit ihren beiden Söhnen, der Tochter einer Freundin und einer herrenlosen Hündin, die sie kurze Zeit zuvor von der Straße aufgelesen hat, auf den Weg. Im Koffer die Schulbücher der Jungen, ihre Ballettschuhe und Wäsche zum Wechseln. Viktoria erzählt, sie sei wie ferngesteuert gewesen bei der Fahrt zur Grenze, sie habe unentwegt geweint. An der Grenze treffen sie auf viele andere Frauen, die mit ihren Kindern das Land verlassen. Sie verabschieden sich von den Männern und Vätern, machen noch ein gemeinsames Foto. „Dann schaust du dieses Bild an und weißt nicht, ob du deinen Mann jemals wiedersehen wirst.“

Umwege nach St. Johann

Auf ihrer Fahrt nach Deutschland erreicht Viktoria ein Anruf von Matthias Kendlinger, dem aus Kössen stammenden Dirigenten – er hat eine Unterkunft in seinem Heimatort organisiert. So kommt die Familie nach Tirol. In der Meinung, hier nur vorübergehend Domizil zu beziehen. Es dauert Wochen, bis Viktoria den Gedanken annehmen kann, dass es vorläufig keine Rückkehr gibt. Anfangs hat sie keinen Blick für die schöne Natur in der Region und alles andere. „Es fühlte sich so fremd an, in den Himmel zu blicken und zu wissen, dass daheim so viele Leute jetzt in den Kellern sitzen, von Angst erfüllt, während du in Österreich bist und in den Himmel schaust“, sagt Viktoria. Später kommt sie nach St. Johann und wohnt jetzt mit ihren Söhnen und Hündin „Kukuruza“ in einem Appartement, das ihr von den deutschen Besitzern zur Verfügung gestellt wird. Viktoria ist ihnen dafür zutiefst dankbar.
Sie ist keine Person, die stillsitzen und einfach abwarten kann. Kendlinger stellte den Kontakt zu Beate Nikkanen her, gemeinsam organisierten Beate und Viktoria bereits einige Tanz-Benefizveranstaltungen für die Ukraine. Viktoria bringt sich auch in der Ballettschule ein. Mit ihrer Arbeit will sie den Menschen, die sie und ihre Familie so gut aufgenommen haben, etwas zurückgeben. Serjih arbeitet weiterhin am Theater. Jetzt, im Winter, ist es kalt und dunkel, während der Aufführungen heulen immer wieder die Sirenen, und alle müssen in den Keller laufen. Aber die Ukrainerinnen und Ukrainer gehen dennoch ins Theater und träumen sich für Minuten und Stunden weg aus dem Krieg.
Serjih darf das Land verlassen, um bei Benefizveranstaltungen aufzutreten oder auf Einladung der Austria Tanz Academy einen Masterkurs abzuhalten. Er ist Botschafter des ukrainischen Kinderhilfswerks, das Gelder zugunsten kriegsverwaister Kinder sammelt. Wenn er nach St. Johann zu seiner Familie kommt, genießt Viktoria ganz bewusst jede gemein­same ­Minute. Doch tief in ihrem Herzen sitzt die Angst, die jeden Moment zählt, der noch bleibt, bis er wieder zurück in die Ukraine muss.

Nicht aufhören, mitfühlend zu sein

Wenn am Samstagmittag die Sirenen heulen, überläuft Viktoria ein eisiger Schauer, sie verbindet das Signal mit den Schrecken des Kriegs. Den Kindern geht es ebenso. Der 10-jährige Matthias tat sich anfangs sehr schwer, die Situation zu akzeptieren. Er vermisst seine Freunde, die mittlerweile in der ganzen Welt verstreut leben. Der Kleine lebte sich schneller ein, er knüpfte bald Kontakte, spricht schon ein wenig Deutsch. „Es ist eine große Schande, dass ihre Kindheit so verläuft, dass wir von zuhause flüchten mussten. Aber ich sage meinen Söhnen immer, dass wir dankbar sein müssen. Dafür, dass wir am Leben und in Sicherheit sind, dass wir zu Essen haben“, so Viktoria.
Als sie in jenen Tagen der Flucht in Polen ankommen, sind sie überwältigt von der Hilfsbereitschaft der Menschen, die sie jenseits der Grenze empfangen. Sie kommen aus ganz Europa und stehen Spalier, um die Geflüchteten willkommen zu heißen. Sie schenken den Kindern Spielzeug, geben Tee und Speisen aus, helfen, wo immer es möglich ist. „Wir konnten die Wärme ihrer Herzen spüren. Das gab uns die Gewissheit, dass nicht die ganze Welt verrückt spielt.“ Sie erinnert sich an eine ganz besondere Begegnung: In einer Unterkunft in Polen sitzen Viktoria und ihre Buben beim Frühstück. Sie sprechen über den Vater und der kleine Nikita zählt auf, was sein Papa gerne mag. Er nimmt das kleine Glas Honig in die Hand, die abgepackte Marmelade, er will sie für den Papa aufbewahren. Gegenüber trinkt eine Frau Kaffee und beobachtete die Szene. Die Blicke der beiden Frauen treffen sich, beiden strömen die Tränen übers Gesicht. „Wir haben so viele gute Menschen gefunden, die helfen. Sie werden für immer in unseren Herzen bleiben“, sagt Viktoria. Auch in St. Johann gebe es viele solch wundervoller Menschen. Was können die Einheimischen tun, wenn sie helfen wollen? „Sie haben schon so viel getan. Sie sollen nur nicht aufhören, mitfühlende Menschen zu sein“, sagt Viktoria. Sie hegt keinen Hass gegen niemanden, auch nicht gegen die Russen. Sie ist Pazifistin, will diesem furchtbaren Gefühl keinen Raum in ihrem Herzen geben.

Bildung als Chance

Kukuruza, die ehemalige Straßenhündin, ist nun fester Bestandteil der Familie und ein wichtiges Stück Heimat. Sie schläft bei den Buben, Nikita wacht oft eng umschlungen mit seiner tierischen Freundin auf. Wenn am Samstag die Sirenen losheulen, heult Kukuruza mit. Sie spürt die Angst, die ihre Menschen ganz unwillkürlich überfällt.
Viktoria träumt davon, dass diese Angst vergeht, dass das Sterben in der Ukraine aufhört und die Kinder dort und auf der ganzen Welt ein gutes Leben haben. Sollte es die Situation irgendwie zulassen, sollte es in Lwiw sicher sein, will sie mit den Buben im Frühjahr wieder zurück in die Ukraine gehen. Serjih hat eine sehr innige Beziehung zu seinen Söhnen, er vermisst sie furchtbar. Und sie ihn.
Viktoria vermisst die Bühne. „Bis zum 24. Februar 2022 haben die Medien als Primaballerina von mir berichtet, jetzt als Flüchtling. Es ist alles so irrational.“ Das Leben könne sich so schnell ändern, meint sie. Wir sollten jeden Moment bewusst und dankbar genießen, in dem es uns gut geht, so die Tänzerin. Sie ist eine starke Frau mit einem großen Herzen. Sie und ihre Familie gehen durch diese schwere Zeit in dem unerschütterlichen Glauben, dass sie irgendwann wieder mit ihren Lieben und den Freunden in der Heimat vereint sein werden. „Dann werden wir wieder zusammensitzen, lachen und feiern“, sagt Viktoria mit glänzenden Augen.
Sie gibt uns noch einen Gedankenanstoß mit auf den Weg: „Bildung und Kultur sind wichtig für eine Gesellschaft, sie schaffen die Basis für ein friedliches Miteinander. Kinder müssen vor allem Herzensbildung erhalten. Das allein ist unsere Chance für die Zukunft.“

Doris Martinz