An der Redford-promenade in St. Johann steht ein Gedenkstein für Frauen. Warum braucht es ihn?

Wer in St. Johann durch das Ortszentrum spaziert, kommt um das Kriegerdenkmal nicht herum. Aktuell befasst sich ein Projekt mit jenen Männern, deren Namen auf der Steintafel verewigt sind. Man versucht herauszufinden, wer sie waren, was sie erlebt haben, welche Geschichten sie mit ins Grab genommen haben. Das ist wichtig, es braucht eine Aufarbeitung.
Unter all den Namen auf der steinernen Tafel sind nur zwei weibliche zu finden. Aber haben nicht viele weitere Frauen im Krieg gelitten? Daheim, als sie um das Überleben ihrer Familien kämpften? Doch, natürlich war das so. Deshalb ließ die Soroptimistin Marianne Kahlbacher 1984 einen „Gedenkstein zu Ehren der leidgeprüften Frauen der Kriegsjahre 1809 – 1984“ setzen. Nicht im Ortszentrum, sondern außerhalb, auf dem „Achenzipf“. Er soll ein Mahnmal sein für die Zukunft: „Dafür, dass es nicht mehr zu solchem Leid kommen darf, dafür soll der Stein stehen … Niemals mehr soll das Leid Frauen treffen, weil sie als Frauen geboren wurden“, so die Worte Kahlbachers bei der Enthüllung des Steins. Seitdem fristet das Mahnmal ein beschauliches Dasein, weitgehend unbehelligt und außerhalb der Wahrnehmung der meisten Sainihånserinnen und Sainihånser. Christl Bernhofer, St. Johanns „erste Feministin“, bedauert das sehr.

Geschichten aus erster Hand

„Wir brauchen den Stein“, sagt Christl bei unserem Gespräch im Café Rainer mit Nachdruck. Warum? „Weil Frauen unheimlich viel geleistet und gelitten haben in den Kriegen und in den Zeiten danach.“ Das ist unbestritten so: Da viele Männer eingezogen wurden, übernahmen Frauen schwere körperliche Arbeit und hielten den Alltag so gut wie möglich aufrecht. Sie brachten ihre Familien durch bitterste Zeiten wirtschaftlicher und emotionaler Not. „Das kann und darf man mit dem, was die Männer im Krieg erlebten, nicht gegenrechnen. Aber es gehört gesehen“, fordert Christl energisch.
Die 78-jährige erzählt von zwei beispielhaften Schicksalen in ihrer Familie: Ihre Schwiegermutter war Kriegswitwe in St. Johann, ihr Mann kam aus Russland nicht mehr zurück. Allerdings wurde sein Leichnam nie gefunden, sie bekam daher viele Jahre lang keine Witwenrente. Unglaublich schwer sei es für die Schwiegermutter gewesen, sich und den kleinen Georg durchzubringen, erzählt Christl. Die beiden kamen bei einer Schwester unter, erst 1961 wurde ihnen eine Gemeindewohnung zugestanden. Mindestens ebenso schmerzvoll wie die Armut sei die Geringschätzung gewesen, mit der man dieser Frau und ihrem Kind begegnete, erzählt Christl. Einmal habe man sogar gedroht, ihr den Sohn wegzunehmen, weil er einen Lausbubenstreich begangen hatte. „Sie war eine wehrlose Frau und stand im sozialen Gefüge ganz unten.“

Im anderen Fall geht es um Christls Vater, der zwar vom Kriegseinsatz in Afrika in die Heimat in Niederösterreich zurückkam, jedoch schwer traumatisiert war und unter seinen Erlebnissen ein Leben lang litt. „Natürlich war das auch für sein Umfeld sehr belastend. Andere Rückkehrer wiederum flüchteten in den Alkohol. Frauen wie meine Mutter mussten alles zusammenhalten, die Familie retten, alles aufrechthalten.“ „Es sollten fünf solcher Steine stehen für Frauen“, meint Christl vehement. Sie schiebt mir über den Tisch ein Buch zu. Es trägt den „Frauenalltag und Wiederaufbau, St. Johann in Tirol nach 1945“, geschrieben von der St. Johannerin Ingrid Tschugg. Das Werk befasst sich also mit eben jenen Themen, die ich gerade mit Christl bespreche.

Es geht darum, zu verstehen

Ich treffe Ingrid eine Woche später auf einen Kaffee, wir sprechen über die Rolle der Frauen im Krieg und in der Nachkriegszeit. „Frauen haben damals Großartiges geleistet. Aber man kann sie nicht zu Heldinnen stilisieren oder ausschließlich zu Opfern des Kriegs machen, das geht nicht“, sagt die Historikerin. Man müsse die Geschichte differenziert betrachten, der Krieg sei auch von vielen Frauen unterstützt worden. „Es geht heute nicht mehr darum, Vorwürfe zu machen, sondern zu verstehen.“ In ihrem Buch beschreibt Ingrid die Situation insbesondere der Frauen in St. Johann in der Nachkriegszeit. Nicht nur in den Städten herrschte damals große Not, sondern auch am Land – nicht jede Familie stammte aus der Landwirtschaft und konnte sich selbst versorgen. „Frauen hatten es schwer, sie litten größte Entbehrungen und mussten damals viel tun, um ihre Familien über Wasser zu halten“, weiß Ingrid. Frauen übernahmen in den Kriegsjahren beispielsweise auch die Jobs der Männer. Und wenn jene vom Schlachtfeld an den Arbeitsplatz zurückkehrten, waren sie wieder brotlos – eine schwierige Situation. Schwer wogen auch die psychischen Belastungen: Die lange Abwesenheit der Männer, das Warten zermürbte. Genauso wie die Entscheidung, wann man den geliebten Mann, der nicht mehr nach Hause kam, für tot erklären und damit alle Hoffnung fahren ließ – um die dringend benötigte Witwenrente zu erhalten.

Zeitzeuginnen berichten

Frauen spielten auch beim Wiederaufbau eine bedeutende Rolle: „Meist spricht man von der Instandsetzung der Infrastruktur, der Häuser und Wirtschaft. Aber auch Familien, Beziehungen, das gesamte soziale Gefüge im Ort lag in Trümmern und musste wieder aufgebaut werden. Frauen bewirkten hier ungemein viel.“
Ingrid Tschugg lässt in ihrem Buch Frauen zu Wort kommen, die die Kriegs- und Nachkriegszeit selbst durchlebten. Ihre Schilderungen zeichnen das Bild von Umständen, die wir uns heute nicht mehr vorstellen können. Vor allem die Ernährung der Familien stellte Frauen vor große Herausforderungen. Da heißt es zum Beispiel an einer Stelle: „Ich habe Zuckerrüben angebaut …und gekocht. … da musst du immer rühren und rühren und rühren. Und bei dem Rühren bin ich (vor Erschöpfung, Anm.d.Red.) eingeschlafen. Dann habe ich fast nichts bekommen. Ja, so ist es dir ergangen.“ Oder: „Was wir jeden Tag essen, womit wir kochen sollen, das ist heute unsere Hauptsorge.“ Weiters, betreffend der Wohnsituation: „Nachher haben sie mir einmal, weil ich eine Zwei-Zimmer-Wohnung gehabt habe, … so eine Flüchtlingsfrau hereingetan in die Wohnung. Und der Mutter auch, eine Flüchtlingsfrau mit zwei Kindern. Und da hat man halt müssen schauen, wie man mit denen zurechtkommt …“

Es braucht einen differenzierten Blick

Ingrid Tschugg brachte das Buch 2005 auf Basis ihrer Diplomarbeit, die sie am Ende ihres Geschichte-Studiums verfasst hatte, heraus. Sie hatte Geschichte und Mathematik auf Lehramt studiert, war Mitglied der Michael-Gaismair-Gesellschaft*, arbeitete damals aktiv mit anderen Historikerinnen zusammen und erkämpfte unter anderem Lehrveranstaltungen zur Frauengeschichte. Ein Unfall riss sie damals aus dem Schreibprozess heraus, chronische Schmerzen an der rechten Hand begleiten sie noch heute. Doch sie kann unterrichten, das tut sie seit 2011 am Gymnasium in St. Johann. Also dort, wo die 56-Jährige einst selbst zur Schule ging.
Ein differenzierter Blick auf die Geschichte des Orts und die Rolle der Frauen ist ihr wichtig, sie fördert die Auseinandersetzung mit diesen Themen auch im Unterricht. „Vieles hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zum Positiven verändert. Aber es braucht den Blick zurück, um zu verstehen und an einer Zukunft arbeiten zu können, in der sich Frauen und Männer bedingungslos auf Augenhöhe begegnen“, meint sie. Dafür gebe es noch einiges zu tun. Und das Mahnmal am Achenzipf? Ingrids Position ist klar: „Frauen haben es verdient, dass man hinschaut. Sie haben ein Denkmal verdient!“

Doris Martinz

* Die Michael-Gaismair-Gesellschaft besteht seit 1977 und greift wenig beachtete oder weitgehend tabuisierte Themen auf, um eine Politisierung möglichst vieler Menschen in Tirol voranzutreiben.