Markus Prantl ist Disponent der Leitstelle Tirol. Er erzählt von der „Königsklasse“, von harten Einsätzen – und wunderschönen.
Sie kommen in Wellen. Verlässlich, Tag für Tag. Immer um 11 und um 17 Uhr. Zu diesen Zeiten häufen sich in Tirol die Notfälle, und in der Leitstelle des Landes Tirol laufen die Telefone heiß. „Ich weiß nicht, woran es liegt, aber es ist so“, bestätigt Markus Prantl. Der 36-jährige St. Johanner ist Obmann der örtlichen Bergrettung und seit sieben Jahren bei der Leitstelle Tirol in Innsbruck beschäftigt. Ein „Retter“ durch und durch also, vielleicht auch deshalb, weil er nach einem schweren Unfall bei einem Autorennen vor einigen Jahren selbst Hilfe brauchte und bekam. „Das prägt.“
Anfangs, erklärt Markus, koordiniere man am Telefon ausschließlich Krankentransporte und absolviere daneben die Notrufausbildung. „Beim Notruf hat man dann zehn Stunden Schicht. In diesen zehn Stunden bekommst du das ganze Leid Tirols komprimiert serviert. Das muss man erst einmal psychisch verarbeiten.“ Damit dies gelingt, werden die Kräfte der Leitstelle psychologisch geschult und über Supervisionen betreut.
Jeder gibt sein Bestes
Beim Notruf werden Mitarbeitende zuerst im Callcenter eingesetzt und erst nach weiterer Ausbildung in der Disposition. Die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter im Callcenter nimmt den Notruf entgegen und geht mit der meldenden Person das standardisierte Abfrageprotokoll durch: Wo ist wann was passiert? Wer ist beteiligt? Und vieles mehr. Die Mitarbeitenden im Callcenter bleiben dran, so lange es gewünscht und notwendig ist und unterstützen die handelnden Personen vor Ort. Disponent:innen koordinieren parallel alles Notwendige: Rettung, Notarzt, Hubschrauber, und was immer es braucht. Markus ist meist als Disponent im Einsatz, immer wieder aber auch im Callcenter. „Du weißt nie, was kommt. Jeder Anruf ist wie ein Überraschungsei.“ Doch ganz egal, worum es sich handle, jede(r) in der Leitstelle gebe stets sein Bestes.
Absolutes Vertrauen
Eine Reanimation ist die „Königsklasse“ in der Leitstelle, so Markus. Als Callcenter-Mitarbeiter weist er in Akutfällen die handelnden Personen vor Ort an und sagt ihnen, was sie tun müssen, in welchem Takt und wie genau sie auf die Brustkorb jener Person drücken müssen, die den medizinischen Notfall erleidet. Er motiviert, unterstützt, gibt ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein mit ihrer schweren Aufgabe. „Viele Leute sind zwar überfordert, aber sie funktionieren, sie verlassen sich zu hundert Prozent und vertrauen auf dich. Sie tun, was sie sollen.“
Die „wildesten und härtesten Einsätze“ am Telefon seien aber Fieberkrämpfe bei Kindern. Als zweifacher Vater kann er die Angst und Verzweiflung der Eltern nachvollziehen, wenn sich das Gesicht ihres Babys oder Kleinkindes plötzlich blau färbt und sich seine Gliedmaßen verkrampfen. „Zum Glück passiert meist nichts Schlimmes, aber der Anblick ist furchtbar, wir wissen das. Bei Kindern bleibt keiner von uns unberührt.“
„Es kommt auf dich an.“
Obwohl die Arbeit in der Leitstelle sehr herausfordernd ist, gibt es für Markus keinen besseren Job. „Weil ich dabei den Menschen unglaublich viel helfen kann.“ Sein Mantra: „Wenn du dran bist am Notruf, bist du diejenige Person, die im Augenblick am besten helfen kann. Es kommt auf dich an. Das ist unglaublich wichtig und belohnend.“
Seinen wohl schönsten Einsatz im Callcenter erlebte Markus just an seinem 30. Geburtstag: Dabei begleitete er einen werdenden Vater durch eine unerwartete Geburt daheim in der Badewanne, eine völlig bizarre und doch wunderschöne Situation. „Ich habe am Telefon den ersten Schrei des Kindes gehört. Das war so ergreifend, dass mir noch heute die Tränen kommen, wenn ich daran denke. Dieses Kind und ich, wir haben am selben Tag Geburtstag.“ Zum Glück ging alles gut, der Vater band mit Markus’ Anleitung die Nabelschnur ab, und nur wenige Minuten später war der Rettungshubschrauber vor Ort.
Natürlich gibt es aber auch belastende Einsätze ohne Happy End. Unfälle, die auch Markus selbst oder seiner Familie zustoßen könnten. In der Ausbildung lerne man, keine Bilder im Kopf entstehen zu lassen. „Aber das funktioniert natürlich nicht immer.“ Gerade Bergunfälle setzen Markus manchmal zu: „Ich erwische mich mitunter, dass ich denke, dass ich auf diesem Berg, an jener Stelle, selbst schon einmal unterwegs war. Dann rufe ich mich selbst zur Ordnung. Denn wenn man solche Gedanken zulässt, ist man anderen keine Hilfe.“
Nicht jeder Mensch ist für die Arbeit in der Leitstelle geeignet. „Man weiß es eigentlich nicht, man muss es probieren.“
Nicht jeder Anruf ist ein Notfall
Im Durchschnitt disponiert die Notfallrettung in Tirol 600 Einsätze pro Tag, an den stärksten Tagen im Winter sind es 900, einhundert davon sind Hubschraubereinsätze – gerechnet ohne technische Einsätze von Feuerwehr, Wasserrettung, Grubenwehr und Höhlenrettung, und ohne Krankentransporte. „Was da jeden Tag geleistet wird, ist heavy.“
Bei dieser großen Anzahl an Einsätzen – stumpft man da nicht irgendwann ab? Natürlich müsse man abstumpfen, so Markus, man könne und dürfe ja nicht mitleiden. „Aber Gefühllosigkeit geht auch nicht. Wenn einen nichts mehr berührt und begeistert, das wäre schlimm“, so Markus.
Doch nicht immer, wenn in der Leitstelle das Telefon schrillt, handelt es sich auch um einen echten Notfall. Wenn die ersten Abfrage-Ergebnisse kein Akut-Ereignis ergeben, wird die anrufende Person an das gut geschulte Team der Gesundheitsberatung (1450) weitergeleitet. „Das funktioniert immer besser und nimmt uns einiges an Last ab“, so Markus. Eines gelte jedoch immer: „Die meldende Person hat stets recht. Wenn sie auf einen Rettungsdienst besteht, kommt auch die Rettung.“ Dass man dann im Krankenhaus schneller an die Reihe kommt, ist aber ein Irrglaube: „Das gilt nur für Notfälle, alle anderen werden in der Ambulanz gereiht.“
Aber wann darf und soll man dann bei der Leitstelle anrufen, und wann lieber nicht? Diese Entscheidung könne er nicht treffen, sagt Markus. Denn jeder nehme das Geschehen anders wahr. Es gebe sogar so etwas wie ein Stadt-Land-Gefälle, meint er; die Städter würden schneller einmal anrufen als die Landbevölkerung. Er erzählt von einem Anrufer aus einem ländlichen Gebiet, der sich meldete,
weil ihm beim Autofahren schwindelig geworden war. Wie sich während des Frageprozesses herausstellte, hatte er sich kurz zuvor beim Holzschneiden mit der Kreissäge zwei Finger abgeschnitten. „Der Schwindel war also nicht verwunderlich.“
Die Wellen um 11 und um 17 Uhr, sie kommen jeden Tag. Verlässlich. Wie lange will Markus sie noch abarbeiten? Bis zur Pensionierung? „Keine Ahnung, aber im Moment könnte ich mir keinen besseren Arbeitsplatz vorstellen“, antwortet er. Er brauche keine Dankbarkeit von den Menschen, denen er hilft, sagt er. Allein das Gefühl, ihnen helfen zu können, ist ihm Dank genug. Weil er ein Retter ist durch und durch. Was für ein Glück für uns.
Doris Martinz
