Elisabeth Aufschnaiter über Schaffensdrang, dunkle Tage und die Kraft der Farben.

Man kommt aus dem Schauen nicht heraus, wenn man Elisabeths Zuhause in St. Johann betritt. An den Wänden hängen unzählige Gemälde; man bestaunt Fotografien, Skulpturen aus Holz und anderen Materialien sowie farbenfrohe Dekoartikel, die aus den verschiedensten Kulturen rund um den Erdball stammen. Und dann, in der roten Küche: zwei Avocado-Bäume: Sie recken ihre dünnen Stämmchen aus dem Topf in die Höhe. Die wenigen grünen, schmalen Blätter an den kargen Ästchen sind kaum auszumachen unter all den bunten Engeln, Schweinchen, Schmetterlingen und anderen Anhängern. „Die Avocados sind wahlweise mein Christbaum und Osterbaum, der das ganze Jahr über nicht abgeräumt wird“, erklärt Elisabeth mit einem Schmunzeln. Die Bäumchen könnten für sie selbst stehen: Sie treiben die wildesten, buntesten „Blüten“, sind absolut einzigartig und außerhalb jeder Norm. Aber sie tragen nur wenige grüne Blätter …

Ausbildung zur Ärztin

Elisabeth Aufschnaiter wird 1961 in eine Jochberger Familie hinein geboren. Ihr Vater ist Wagnermeister, einer der letzten seiner Zunft. Da kaum mehr Holzschlitten und Wagenräder gebraucht werden, arbeitet er später als Tischler und Innenausstatter. Ihr Bruder ist heute noch in diesem Metier tätig. Nach der Volks- und Hauptschule absolviert Elisabeth die Ferrarischule in Innsbruck und lebt fortan dort. In der letzten Schulstufe vor der Matura dann plötzlich, wie aus heiterem Himmel, die Eingebung: Sie möchte Medizin studieren. Vielleicht auch deshalb, weil sie das Unterrichtsfach Psychologie fasziniert. Die Eltern halten wenig von Elisa­beths Plänen. „Ich habe das Studium damals definitiv gegen ihren Willen durchgezogen“, erzählt sie. Ein Stipendium hilft ihr, wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Während des Studiums zwingen sie psychische Probleme um Haaresbreite zum Aufgeben, doch sie kann die schwierige Phase überwinden. Ein Turnusjahr absolviert sie in den 80er Jahren in Kitzbühel – mit 53-Stunden-Diensten. „Heute wäre das zum Glück ganz undenkbar.“ In der Psychiatrie in Hall beginnt sie später ihre Ausbildung zur Fachärztin. Die Arbeit mit den Patientinnen und Patienten ist hoch interessant. Doch sie bringt die junge Ärztin auch an die eigenen Grenzen – und darüber hinaus. Sie muss die Ausbildung abbrechen. Was sie aus der Zeit in Hall mitnimmt, ist nicht nur viel Erfahrung, sondern auch die Liebe ihres Lebens: Sie lernt dort ihren Partner, den Psychiater Johannes Wirth, kennen und lieben.

Elisabeth wird Psychotherapeutin

Schon von Kindheit an betätigt sich Elisabeth künstlerisch. Zwar finden ihre Werke in der Familie nicht die ersehnte Anerkennung, ihren Schaffensdrang kann diese Tatsache jedoch nicht bremsen. Sie malt, strickt, häkelt, musiziert auf dem Akkordeon, besucht einen Keramikkurs und drückt sich in mannigfaltiger Weise aus. Nach dem Abbruch der Ausbildung in Hall lebt sie für einige Jahre als freischaffende Künstlerin. 1999 bekommt Johannes eine Kassenstelle für Psychiatrie in St. Johann, die beiden übersiedeln in die Marktgemeinde. Als ein Kollege, der ursprünglich bei Johannes einsteigen will, kurzfristig absagt, springt Elisabeth als niedergelassene Ärztin ein und absolviert daneben die mehrjährige Ausbildung zur Psychotherapeutin. Warum gerade dieser Bereich? „Es war auch der Versuch der Eigentherapie, das war mir immer bewusst. Ich wollte ein besseres Verständnis und mehr Einblick in diese Thematik haben“, erklärt sie. Das Gespräch mit ihren Patientinnen und Patienten sei immer eines auf Augenhöhe gewesen, erzählt sie. „Wenn man selbst immer wieder betroffen ist, kann man das Leiden anderer noch besser nachvollziehen. Ich denke, meine Patienten und Patientinnen haben immer gespürt, dass ich genau wusste, wovon ich sprach. Man lernt voneinander.“

Kreativer „Output“

Elisabeth lächelt und zupft am Ärmel des kunterbunten, selbstgehäkelten Überwurfs, den sie über dem roten Rollkragenpulli und zu den roten Leggins mit den kleinen Glitzersteinen trägt. An ihren Ohren baumeln Ohrringe mit grün-orangen Filzanhängern. Elisabeth – ein „bunter Vogel“ par excellence. „Bunt ist meine Lieblingsfarbe“, zitiert sie den „Bauhaus“-Gründer Walter Gropius. Farben seien ihr Lebenselixier, sagt sie. „Sie muntern mich auf, halten mich am Leben.“ Dasselbe gelte auch für die Möglichkeit, sich auszudrücken über Malerei, Bildhauerei, Musik, Kunst und Kultur. „Ich brauche das alles, um mein Innerstes nach außen zu transportieren, mich auszudrücken und mein Umfeld zu gestalten.“ „Mainstream“ ist das, was dabei zum Vorschein kommt, meist nicht. Im Gegenteil: Manche ihrer „Outputs“ sind ganz schön schräg, wie zum Beispiel die improvisierte Musik, die sie auf ihrem Akkordeon spielt.
„Ich bin einfach ein wenig neben der Norm. Es ist schön dort“, sagt sie und lacht herzlich. Dabei gehe es ihr nicht darum, andere zu provozieren. Sondern nur darum, zu leben, was sie ist: „Die Elisabeth ist bunt, innen und außen. Punkt. Rufzeichen!“
2021 sind sie und Johannes in den Ruhestand gegangen. Seitdem hat Elisabeth mehr Zeit für die ehrenamtliche Mitarbeit in der Alten Gerberei. Seitdem lebt sie auch ihre Kreativität noch mehr aus. „So vieles will in Ausdruck gebracht werden, in allen Techniken, quer durch Kunstformen, Techniken, Musikstile, Handarbeiten. Für mich heißt es jetzt immer schaffen, schaffen, schaffen!“

Dankbar für das Leben

Das Bedürfnis, etwas auszudrücken, müsse ein Urtrieb in ihr sein, mutmaßt sie. Es hielt sie am Leben. Sie habe sich früher manchmal geschämt, so die heute 63-Jährige, wenn ihre Patientinnen und Patienten merkten, dass sie wusste, was es heißt, suizidal zu sein und kurz davor zu stehen, diese Welt aus eigenen Stücken zu verlassen. „Gott sei Dank habe ich nie den letzten Schritt getan. Ich bin so dankbar, dass ich lebe, dass ich jetzt alles ausleben kann.“ Es habe immer eine innere Stimme gegeben, die ihr sagte, dass sie weiterleben sollte. Vielleicht sei es die Stimme der Muttergottes gewesen oder jene eines Schutzengels, sagt Elisabeth. Sie spüre eine Verbindung in eine andere Welt, mit der katholischen Kirche habe das nichts zu tun. Früher nahm sie Medikamente und Antidepressiva ein, heute kommt sie mit pflanzlichen Präparaten zurecht. Auch deshalb, weil sie mehr Zeit für sich hat und sich mehr um sich selbst kümmern kann. Ihre Entscheidung gegen die Mutterschaft, die sie als junge Frau traf, bereut sie nicht. „Depressive Phasen bei der Mutter können für Kinder sehr belastend sein“, sagt sie. „Ich wollte das nicht.“
Noch immer kommen alte Themen hoch wie die empfundene Abwertung und Geringschätzung in der Kindheit und ihre Fortsetzung im späteren Leben. Doch Elisabeth hat gelernt, durch ihr „Fegefeuer“, wie sie es nennt, hindurchzugehen. Sie weiß um das große Glück, Johannes an ihrer Seite zu haben. Die beiden helfen sich gegenseitig, heftige Krisen haben sie letztendlich zusammengeschweißt, erzählt­ sie.
Ihre schönsten Momente erlebe sie, wenn sie in der Alten Gerberei sitze und ein „lässiges“ Konzert erlebe. Oder beim Malen. „Da sitze ich dann da und bin einfach glücklich.“ Und die kargen Ästchen der Avocado-Bäumchen zittern sacht vor Freude … 

Doris Martinz