Wirbelsäulenspezialist Dr. Tino Riegger vom BKH St. Johann über ganzheitliche Ansätze, Übungsmoral und mehr.
Beim Besuch meiner Physio-Therapeutin fällt mir ein Flyer von „Synergie Mensch“ in die Hände. „Ganzheitliches Rückenprogramm, Bewegen-Verstehen-Verändern“, heißt es auf der Titelseite. Ich bin zwar wegen meiner Schulter da, aber auch bei Rückenschmerzen kann ich mitreden. Mir gefällt der ganzheitliche Zugang, ich will mehr darüber wissen.
Spoiler und schlechte Nachricht: Es gibt sie immer noch nicht, die Tablette, die Rückenschmerzen heilt und einfach verschwinden lässt. „Der Mensch muss sich bewegen, das ist keine neue Erkenntnis. Über 90 Prozent der Rückenschmerzenpatient:innen reagieren gut auf Übungen, auf Bewegungs- und Trainingstherapie“, sagt OA Dr. Tino Riegger, Wirbelsäulenspezialist am Bezirkskrankenhaus St. Johann, bei unserem Gespräch in seinem Büro. Als Facharzt für Orthopädie und Traumatologie ist es ihm ein Anliegen, die Menschen auch außerhalb seines Arbeitsplatzes zu erreichen und sie dazu zu motivieren, sich um ihren Rücken zu kümmern. Deshalb begleitet er als Arzt – unabhängig von seiner Arbeit im Krankenhaus – das ganzheitliche Rückenprogramm von Synergie Mensch in St. Johann. Die Muskulatur des Rumpfs könne statische Haltefunktionen der Wirbelsäule übernehmen, erklärt er, gut trainierte Muskeln können entlasten und Schmerzen lindern.
Er weiß das so genau, weil er – bevor er Medizin studierte –
Physiotherapeut war. „Ich wollte dann aber noch mehr über Zusammenhänge und Vorgänge im menschlichen Körper wissen“, erzählt er. Was in den Menschen mit Rückenschmerzen vorgeht, weiß er auch: „Solange es weh tut, ist man fleißig mit den Übungen. Sobald es besser wird, lässt die Motivation nach, dann kommen wieder Beschwerden.“ Patientinnen und Patienten, so der Spezialist, müssten angeregt werden, sich generell aktiv zu bewegen – mit Rückentraining, Pilates, Calisthenics und so fort. Ausreden lässt der Chirurg nicht gelten: „Übungen – zum Beispiel mit dem eigenen Körpergewicht oder mit Therapie-Bändern – kann man immer und überall machen, im Büro, im Urlaub, auf Geschäftsreise. Das Training sollte ins Leben integriert werden, es braucht Regelmäßigkeit.“ Zudem rät er zu mehr Bewegung im Alltag: zu Fuß gehen oder öfter das Rad nehmen, die Treppe statt des Aufzugs nehmen, im Büro häufiger die Position wechseln.
Viele Faktoren spielen eine Rolle
Auch bei der Ernährung sieht Dr. Riegger Möglichkeiten, Positives für den Rücken zu bewirken: „Es gibt Lebensmittel, deren häufiger Genuss kleine Entzündungen im ganzen Körper auslösen kann. Diese Entzündungen sind im Labor nicht nachzuweisen, doch sie sind da und führen auf Dauer zu Problemen.“ Was sollten wir meiden? „Rotes Fleisch ist schlecht, generell sollte man hoch verarbeitete Lebensmittel wie Wurst, Fertiggerichte oder auch industriell hergestelltes Brot möglichst reduzieren.“
Im Flyer ist auch die Rede von Atemtraining und der inneren Einstellung. Zurecht, wie Dr. Riegger bestätigt: „Richtig atmen ist wichtig, da geht es auch um Körperwahrnehmung und die nötige Entspannung. Förderlich sind auch ausreichend Schlaf und eine starke Psyche – Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, dass es nicht mehr besser wird mit dem Rücken, sind ganz schlecht für die Genesung.“ Dr. Riegger fasst zusammen: „Es gibt nicht den einen goldenen Weg zur Rückengesundheit, der ist individuell und schaut bei jedem Menschen anders aus.“
Patientinnen und Patienten, weiß er, würden relativ viel Geld für passive Maßnahmen ausgeben, sie hätten am liebsten eine Tablette oder Spritze, die ihnen die Bewegung erspart. „Aber das funktioniert leider nicht. Man muss schon aktiv werden.“ Aufklärung ist wichtig, das ist sein Zugang.
Von der Stadt nach St. Johann
Dr. Riegger studierte in seiner Heimat Deutschland Medizin, er absolvierte im Raum Stuttgart die Ausbildung zum Allgemeinchirurgen, arbeitete in der Allgemein- und Neurochirurgie, befasste sich mit Orthopädie und Biomechanik und verbindet diese Fächer nun als Wirbelsäulenspezialist am BKH St. Johann. In die Marktgemeinde kam er über einen Kollegen an seinem früheren Arbeitsplatz. Im Sommer 2021 besuchte er den Ort für zwei Tage mit seiner Familie, um sich den potentiellen neuen Lebensraum anzusehen. Die Bilanz fiel positiv aus: Auch Dr. Rieggers Frau und die beiden Kinder waren sofort angetan von der Idee, hier zu bleiben.
Was Dr. Riegger im Krankenhaus besonders positiv auffiel, waren das gute Betriebsklima und der liebevolle Umgang des Pflegeteams mit den Patientinnen und Patienten. „Das ist mir wichtig. Ich brauche einen guten Zugang zu den Patient:innen, schließlich operiere ich Menschen und keine Bilder.“ Reizvoll sei es für ihn natürlich gewesen, als Wirbelsäulenspezialist eine eigene Abteilung aufzubauen, so der Chirurg. Im Februar 2022 nahm er seine Arbeit auf, inzwischen hat sich seine Expertise herumgesprochen – die OP-Säle sind gut gebucht.
Die Familie des Wahl-St. Johanners hat sich in den letzten Jahren eingelebt, die Kinder sprechen bereits ein wenig Dialekt. Und der „Doc“ selbst? „Ich verstehe ihn mittlerweile immerhin ganz gut“, meint er lachend. Er schätzt das Freizeitangebot und das Flair der Marktgemeinde und besucht in den Sommermonaten gerne die „Lang&Klang“-Abende.
Große Chirurgie
Dr. Riegger setzt auf Vorbeugung und konservative Behandlungen wie Physiotherapie, Rückengymnastik oder auch Infiltration. Aber wenn alles nichts hilft, ist eine weitere Therapieoption das Skalpell. Anhand eines Wirbelsäulenmodells erklärt er mir, was bei einem Bandscheibenvorfall passiert, warum sich im Alter mitunter der Spinalkanal verengt, wo Degeneration und Verschleißerscheinungen am häufigsten auftreten – und welch schmerzhafte Folgen sie nach sich ziehen. Er beschreibt akribisch, wo er als umsichtiger Operateur Schrauben und Stäbe setzt und Platten platziert, die die Wirbelsäule entlasten und so eine Schmerzlinderung bewirken. Beim Erklären, beim Gespräch über Wirbel, Schrauben, Stäbe und Platten, geht ein Leuchten über sein Gesicht. „Das ist genau mein Ding, das ist schon große Chirurgie mit langen OP-Zeiten“, sagt er. Vor allem sind die Operationen größtenteils erfolgreich: Schmerzfreiheit kann Dr. Riegger leider nicht garantieren, eine deutliche Reduktion der Beschwerden jedoch ist zumeist das Ergebnis seiner Intervention. Von seinem Know-how profitieren sogar hochbetagte Menschen „85 plus“. „Vorausgesetzt natürlich, dass sie aus internistischer Sicht gesund und stabil sind“, schränkt er ein.
Die beste Vorbeugung ist und bleibt jedoch: Bewegung! Wir können selbst viel dazu beitragen, dass wir agil und fit bleiben. Also: Runter von der Couch, raus in die Natur – und immer schön üben …
Doris Martinz
