Olga, Ana und Juri sind aus der Ukraine zu uns geflüchtet. Über ihre schrecklichsten Momente, über Hoffen und Bangen.

Bis zum 6. März dieses Jahres lebt Olga Balabon mit ihrem Lebensgefährten Viktor und ihrer Tochter Viktoria in einer Wohnung in Mariupol, Ukraine. Sie sind nicht reich, nein, aber die kleine Familie führt ein gutes Leben. Olga ist Lehrerin an einer Musikschule. Ihr Fach und ihre Leidenschaft ist das Klavier. Oder muss man sagen: War das Klavier?
Mitte April sitzt mir Olga in der Homebase in St. Johann gegenüber. Die 41-Jährige lächelt tapfer, sie streicht sich mit der Hand immer wieder übers Gesicht. Ihr mittellanges, dunkles, glattes Haar ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Schultern sind schmal, die Figur ist zierlich. Sie trägt einen türkisfarbenen Sweater und eine beigefarbene Hose. Sind das ihre Sachen? Wahrscheinlich nicht. Wie mag sich Olga wohl gerade fühlen – in einem fremden Land, im Gespräch mit einer Redakteurin, deren Sprache sie nicht spricht, in gebrauchten Klamotten, die man ihr in bester Absicht geschenkt hat? Ob sie die Farbe Türkis überhaupt mag?
Ich bitte Olga, von sich zu erzählen, von ihrer Flucht, ihren Ansichten, was den Krieg betrifft. Die anfängliche Scheu weicht schnell, Olga spricht schnell – in Russisch –, sie wendet sich an den Übersetzer Pavel Musiyenko und bezieht mich mit ihren Blicken mit ein. Organisiert hat das Treffen Wolfgang Gstrein, der vor einigen Wochen nicht nur einen Konvoi mit Hilfsgütern in die Ukraine organisiert, sondern inzwischen auch den Verein „Prove Humanity“ gegründet und mit einem Bus mehr als 30 Flüchtlinge an der polnischen Grenze aufgelesen und nach St. Johann gebracht hat. Der Versicherungskaufmann in St. Johann verfolgt interessiert unser Gespräch.

Jahrelange Angst

Eigentlich beginnt das Drama für die Familie Balabon schon im Jahr 2014, in einem Dorf in der Nähe von Mariupol in der südöstlichen Provinz Donbass. Immer wieder gibt es dort schon damals Kämpfe zwischen pro-russischen Separatisten und dem ukrainischen Militär. Olga ist gerade mit der kleinen Viktoria, zwei Nachbarskindern und deren Oma auf einem Feldweg außerhalb des Dorfs unterwegs, als Schüsse zu hören sind. Die kleine Gruppe rennt in Richtung eines Stalls, um sich dort in Sicherheit zu bringen, als eine Bombe einschlägt. Nur Olga und Viktoria überleben. Olgas Vater besteht darauf, dass die Familie in die Stadt zieht. Die Angst übersiedelt mit.
In den letzten Monaten verfolgen die Balabons – wie alle Menschen in Mariupol – mit großer Besorgnis die zunehmenden Spannungen zwischen der Ukraine und Russland. Am 23. Februar fallen die ersten Bomben, nur einen Tag später treffen sie den ersten Wohnblock. Die Detonationen erschüttern die ganze Stadt. Aber das muss doch aufhören? Es kann doch nicht sein, dass die Russen die Stadt wirklich zerstören wollen? Niemand kann, niemand will das glauben. Es scheint anfangs völlig absurd, und wird doch Wirklichkeit. Bald steht die Stadt unter Dauerbeschuss, eine Flucht wird unmöglich. Die Familie lebt in unsäglicher Angst, erzählt Olga. „Mama, sterben wir jetzt alle?“, fragt Viktoria ihre Eltern. Olga erzählt, dass sie im März für ihre Tochter einen Polster und eine Decke in die Badewanne gelegt und ihr versichert habe, dass das Badezimmer ein sicherer Ort sei, dass sie dort beruhigt schlafen könne. Das entspricht natürlich nicht den Tatsachen, aber wie soll sie ihre Tochter sonst beruhigen? Es gibt keine Schutzräume, keine Zufluchtsorte. Nur immer mehr Bomben. Olga schlägt die Hände vors Gesicht, als sie davon erzählt, sie wischt sich die Tränen aus den Augen.
Irgendwann steht fest: Eine Flucht ist sehr gefährlich, aber zu bleiben ist noch gefährlicher. Sie müssen weg, raus aus der Stadt, noch in der selben Minute. Olga, Viktoria und ihre Großmutter Galina springen ins Auto und fahren los. Nur mit dem, was sie am Leibe tragen und mit ihren Reisepässen in der Handtasche. Sie schaffen es mit viel Glück über die Brücke in den östlichen Stadtteil, der vom Kriegsgeschehen noch weniger betroffen ist. Dort finden sie mit 200 anderen Geflüchteten Unterschlupf in einer Kirche. Es gibt hier allerdings kein Essen und nichts zu trinken – viele, viele Stunden lang. Schließlich schmelzen die Menschen Schnee, das Wasser wird verteilt. Die Erinnerung an den Moment, in dem sie und ihre Tochter endlich ein paar Schlucke trinken können, überwältigt Olga, sie wendet sich ab.

Österreich?

Irgendwann können Galina und Viktoria mit dem Bus die Stadt in Richtung Westen verlassen, Olga folgt ihnen mit dem Auto. Da die Bomben die Straßen zerstört haben, muss sie den Wagen schließlich stehen lassen. Eine Woche dauert es, bis sie Tochter und Mutter an der Grenze zu Polen endlich wieder findet, bis die drei wieder vereint sind. Der Kontakt zu Viktor und zu Olgas Vater ist damals bereits abgerissen, beide sind nicht mehr erreichbar. Männer dürfen das Land nicht verlassen.
In Polen warten Großmutter, Mutter und Tochter bangen Herzens in einer Bahnhofshalle. Worauf? Sie wissen es selbst nicht. Man hat ihnen gesagt, dass Deutschland gute Möglichkeiten für Flüchtlinge aus der Ukraine bietet. Aber die Busse nach Deutschland sind alle voll. Da kämpft sich eine Frau mit einem Mikrofon in der Hand einen Weg durch die Menge. „Acht Plätze für Österreich sind noch frei“, sagt sie auf russisch. Österreich? Natürlich haben die beiden Frauen und das Mädchen schon einmal von diesem Land gehört. Aber alles, was Olga darüber weiß, ist, dass es die Heimat von Wolfgang Amadeus Mozart ist. Sie mag Mozarts Werke.
Noch zögern sie. Doch als die Frau noch einmal an ihnen vorbeikommt, entscheiden sich Olga und Galina spontan, drei der Plätze in Anspruch zu nehmen. Sie wissen nicht, in wessen Bus sie sich setzen (es ist der Bus, den Wolfgang Gstrein organisiert hat), wem sie ihr Leben anvertrauen. Sie wissen nicht, was sie in Österreich erwarten wird, nichts über die Sprache, Kultur, Landschaften. Sie hoffen das Beste. Und sind überwältigt davon, wie herzlich sie am 31. März empfangen werden. „Wir haben nicht gewusst, dass es auf der Welt überhaupt so nette Menschen gibt wie hier“, sagt Olga. Sie blickt wie beschämt zu Boden und winkt energisch ab, als ich sie frage, ob es etwas gibt, das sie noch braucht. „Wir haben alles, Spasiba!“. Das russische Wort für Danke fällt während unseres Gesprächs immer und immer wieder. Olga ist ungemein dankbar für die Hilfe, die sie und ihre Lieben bei uns erfahren. Sie will um nichts bitten, niemandem zur Last fallen. Doch auch wenn es etwas gäbe, das die Familie vielleicht noch brauchen könnte, würde sie es mir nicht sagen, verrät mir Wolfgang. Er kennt die ukrainischen Familien inzwischen ein wenig. Es sind bescheidene Menschen, die kein Aufheben um ihre Person und um ihre Umstände machen wollen. Und doch sehr dankbar für alles sind, das sie an Positivem erfahren.

Brüder, die keine mehr sind

Noch immer hat Olga keine Nachricht von Viktor. Über Bekannte konnte sie immerhin erfahren, dass es ihrem Vater gut geht.
Olga sagt, sie habe Präsident Wolodymyr Selenskyj gewählt, sie finde es gut, wie sich ihr Land unter seiner Regentschaft entwickelt hat. Sie spricht zwar russisch wie alle Menschen in den östlichen Provinzen der Ukraine, doch sie fühlt sich als Ukrainerin und damit dem Westen, Europa, wesentlich näher als Russland. „Aber die Russen waren immer wie Brüder für uns“, sagt Olga. „Das ist nun vorbei, es wird nie wieder so sein wie früher.“
Doch kann man Putins Taten dem gesamten russischen Volk anlasten? Nicht allen, erklärt der Dolmetscher Pavel. Nach seiner Sicht stellen sich zehn Prozent der Russen offen gegen Putin, 40 Prozent äußern sich nicht, und 50 Prozent heißen sein Vorgehen gut. Es sind Zahlen, die mich schockieren. „Die Propaganda wirkt,“ sagt Pavel, „und die Russen schauen lieber weg, als selber zu denken.“ Auch Pavel stammt aus der Ukraine.
Olga erzählt, dass sich junge Männer in ihrer Stadt mit Gewehren gegen Panzer stellen. Im Wissen, dass sie wohl ihr Leben lassen werden gegen die russische Übermacht. Sie bewundert ihren Mut, ihr Heldentum. An eine Lösung, einen Kompromiss, der die Kämpfe beenden könnte, glaubt sie nicht. Sobald es möglich ist, will sie mit Viktoria und ihrer Mutter wieder zurück nach Hause nach Mariupol. Aber was, wenn die Stadt dann zu Russland gehören wird? „Daran mag ich nicht denken“, sagt Olga.
Wie geht es Viktoria bei uns? „Gut“, antwortet Olga. „Aber sie denkt oft an ihren Vater, und dann versuche ich, sie abzulenken“, sagt sie. Wieder schimmern ihre Augen. Jedes Mal, wenn Olga weint, kämpfe auch ich mit den Tränen. Ich war auf dramatische Schilderungen gefasst. Doch was Olga erzählt, setzt mir zu. Wie wird es mit Ana und Juri sein?

Schwerer Abschied

Ich bedanke mich bei Olga mit „Spasiba“ und begrüße Ana und Juri Kamischanov, 37 und 39 Jahre alt, ein Ehepaar aus Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine. Auch sie sind vor dem Krieg geflüchtet, gemeinsam mit ihren drei Kindern Iraida, 14, Ilia, zwölf und Ana, zweieinhalb Jahre alt. Juri durfte seine Familie begleiten, weil er Vater von drei Kindern ist. Er erklärt: Wer drei oder mehr Kinder hat, darf das Land verlassen, wer weniger oder keine hat, muss bleiben und kämpfen. Männer, die auf der Straße angetroffen werden, werden sofort eingezogen.
Die Kamischanovs sind einfache, bescheidene Leute, beide schmal gebaut und hoch gewachsen. Juri ist Tischler, Ana Schneiderin. Sie haben zumindest noch ihre Koffer packen können mit ein paar Sachen für die Kinder, mit Zahnbürsten und Papieren. Sie haben ihre Wohnung hinter sich zugesperrt, bevor sie Stadt und Land verließen. Juris Lippen zittern, als er von den Sirenen erzählt, vom Fliegeralarm und vom bangen Warten im Keller des neunstöckigen Wohnhauses. Er kann die Tränen nicht zurückhalten, als er sich an die letzte Fahrt durch seine Stadt erinnert, an den Abschied von der Heimat. Er zieht seine Mütze tief ins Gesicht.

Spenden willkommen

Ana hat eine Schwester, die in Russland lebt. Was sagt jene zur Situation? „Meine Schwester hat den Kontakt abgebrochen, sie will nicht mit mir sprechen“, sagt Ana mit tiefer Betroffenheit in der Stimme. Ihre Schwester glaubt kein Wort von dem, was sie erzählt. Anas Schwester vertraut den Medien in ihrem Land, sie glaubt an Putin.
Auch Ana und Juri sind – wie Olga – davon überzeugt, dass ihr Präsident nicht anders handeln kann, als er es tut. Sie wollen, dass die Ukraine Mitglied der EU und der NATO wird.
Die schwierige Situation und die Flucht haben die Familie nur noch stärker gemacht, sagt Juri. Gemeinsam werden sie alle Widrigkeiten meistern. Er und Ana sehen die Zukunft ihrer Kinder hier in Österreich. Gibt es noch etwas, was sie brauchen? Natürlich nicht, Juri hat seinen Stolz. Er ist alles, was ihm – außer seiner Familie – noch geblieben ist. Wie so vielen anderen Menschen, die in unserer Region, in Österreich und in ganz Europa Zuflucht suchen vor den Schrecken des Kriegs.

Wer helfen will, kann das auch in Form von Geldspenden an den Verein „Prove Humanity“ tun, Kontonummer AT95 2050 5000 1084 0890.

Wolfgang Gstrein verwendet die Spenden dazu, für die Familien vor Ort ganz unkompliziert und zielsicher Notwendiges anzuschaffen. Ein herzliches „Spasiba“ an Wolfgang und an die vielen freiwilligen HelferInnen in der ganzen Region. Mit ihrem Einsatz machen sie wahr, was Wolfgang mit seinem Verein verspricht: Sie beweisen Menschlichkeit.

Doris Martinz